Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
auf eine solche Art vorhanden ist, daß wir uns ihrer
bewußtseyn könnten. Die Kraft der Seele ist das
wirksame Princip in dem Fall, wenn die Verände-
rung eine Kraftäußerung ist; und dann ist das kör-
perliche Organ das leidende, das nichts mehr thut,
als bloß allein zurückwirket; aber hingegen ist das Or-
gan das wirkende Princip, und die Seele reagirt nur
leidentlich in den Empfindungen. Kann nun das Kör-
perliche in dem Organ, die materielle Jdee, oder, wie
wir es nennen wollen, die harmonische Verände-
rung,
die zu einer Seelenthätigkeit gehöret, durch Ur-
sachen in dem Körper gegenwärtig gemacht werden, so
kann die Seele dadurch leiden, und dann instinktartig
zu dem begleitenden, vorstellenden oder denkenden Aktus
bestimmet werden.

Jedoch alle Erklärungen bey Seite gesetzt, will ich
noch Eine Bemerkung zu den vorigen hinzusetzen. Dieß
soll der fünfte Erfahrungssatz seyn. "Wenn es
"uns nach der dritten und vierten Beobachtung begegnet,
"daß eine Vorstellung ohne ein Gefühl unsers eignen
"Bestrebens in uns gegenwärtig wird, oder gegenwär-
"tig bleibet, oder lebhafter hervorgehet, ingleichen
"wenn wir zu einer Reflexion, oder zu einem Tenk-
"aktus, oder zu einer andern Thätigkeit leidentlich be-
"stimmet werden: so finden wir uns auf eine ähnliche
"Art modificiret, als es nach der zwoten Erfahrung |in
"solchen Fällen geschieht, wo eine Kraftäußerung un-
"mittelbar auf ein Gefühl erfolget, zu der dieses Gefühl
"uns bestimmet."

Jch bin in einer Leidenschaft, oder es wallet doch
das Geblüt noch jetzo von ihr. Die vorigen Jdeen
steigen von Zeit zu Zeit wieder auf, und reizen zu den
vorigen Aktionen, die dann auch wohl zum Theil wirk-
lich wieder erfolgen. Aber es ist nicht schwer zu be-
merken, daß, was hier leidentlich erfolget, unterbro-

chen,

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
auf eine ſolche Art vorhanden iſt, daß wir uns ihrer
bewußtſeyn koͤnnten. Die Kraft der Seele iſt das
wirkſame Princip in dem Fall, wenn die Veraͤnde-
rung eine Kraftaͤußerung iſt; und dann iſt das koͤr-
perliche Organ das leidende, das nichts mehr thut,
als bloß allein zuruͤckwirket; aber hingegen iſt das Or-
gan das wirkende Princip, und die Seele reagirt nur
leidentlich in den Empfindungen. Kann nun das Koͤr-
perliche in dem Organ, die materielle Jdee, oder, wie
wir es nennen wollen, die harmoniſche Veraͤnde-
rung,
die zu einer Seelenthaͤtigkeit gehoͤret, durch Ur-
ſachen in dem Koͤrper gegenwaͤrtig gemacht werden, ſo
kann die Seele dadurch leiden, und dann inſtinktartig
zu dem begleitenden, vorſtellenden oder denkenden Aktus
beſtimmet werden.

Jedoch alle Erklaͤrungen bey Seite geſetzt, will ich
noch Eine Bemerkung zu den vorigen hinzuſetzen. Dieß
ſoll der fuͤnfte Erfahrungsſatz ſeyn. „Wenn es
„uns nach der dritten und vierten Beobachtung begegnet,
„daß eine Vorſtellung ohne ein Gefuͤhl unſers eignen
„Beſtrebens in uns gegenwaͤrtig wird, oder gegenwaͤr-
„tig bleibet, oder lebhafter hervorgehet, ingleichen
„wenn wir zu einer Reflexion, oder zu einem Tenk-
„aktus, oder zu einer andern Thaͤtigkeit leidentlich be-
„ſtimmet werden: ſo finden wir uns auf eine aͤhnliche
„Art modificiret, als es nach der zwoten Erfahrung |in
„ſolchen Faͤllen geſchieht, wo eine Kraftaͤußerung un-
„mittelbar auf ein Gefuͤhl erfolget, zu der dieſes Gefuͤhl
„uns beſtimmet.‟

Jch bin in einer Leidenſchaft, oder es wallet doch
das Gebluͤt noch jetzo von ihr. Die vorigen Jdeen
ſteigen von Zeit zu Zeit wieder auf, und reizen zu den
vorigen Aktionen, die dann auch wohl zum Theil wirk-
lich wieder erfolgen. Aber es iſt nicht ſchwer zu be-
merken, daß, was hier leidentlich erfolget, unterbro-

chen,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0110" n="80"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XII.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit</hi></fw><lb/>
auf eine &#x017F;olche Art vorhanden i&#x017F;t, daß wir uns ihrer<lb/>
bewußt&#x017F;eyn ko&#x0364;nnten. Die <hi rendition="#fr">Kraft der Seele</hi> i&#x017F;t das<lb/><hi rendition="#fr">wirk&#x017F;ame</hi> Princip in dem Fall, wenn die Vera&#x0364;nde-<lb/>
rung eine <hi rendition="#fr">Krafta&#x0364;ußerung</hi> i&#x017F;t; und dann i&#x017F;t das ko&#x0364;r-<lb/>
perliche Organ das <hi rendition="#fr">leidende,</hi> das nichts mehr thut,<lb/>
als bloß allein zuru&#x0364;ckwirket; aber hingegen i&#x017F;t das Or-<lb/>
gan das <hi rendition="#fr">wirkende</hi> Princip, und die Seele reagirt nur<lb/>
leidentlich in den Empfindungen. Kann nun das Ko&#x0364;r-<lb/>
perliche in dem Organ, die <hi rendition="#fr">materielle Jdee,</hi> oder, wie<lb/>
wir es nennen wollen, die <hi rendition="#fr">harmoni&#x017F;che Vera&#x0364;nde-<lb/>
rung,</hi> die zu einer Seelentha&#x0364;tigkeit geho&#x0364;ret, durch Ur-<lb/>
&#x017F;achen in dem Ko&#x0364;rper gegenwa&#x0364;rtig gemacht werden, &#x017F;o<lb/>
kann die Seele dadurch leiden, und dann in&#x017F;tinktartig<lb/>
zu dem begleitenden, vor&#x017F;tellenden oder denkenden Aktus<lb/>
be&#x017F;timmet werden.</p><lb/>
            <p>Jedoch alle Erkla&#x0364;rungen bey Seite ge&#x017F;etzt, will ich<lb/>
noch Eine Bemerkung zu den vorigen hinzu&#x017F;etzen. Dieß<lb/>
&#x017F;oll <hi rendition="#fr">der fu&#x0364;nfte Erfahrungs&#x017F;atz</hi> &#x017F;eyn. &#x201E;Wenn es<lb/>
&#x201E;uns nach der dritten und vierten Beobachtung begegnet,<lb/>
&#x201E;daß eine Vor&#x017F;tellung ohne ein Gefu&#x0364;hl un&#x017F;ers eignen<lb/>
&#x201E;Be&#x017F;trebens in uns gegenwa&#x0364;rtig wird, oder gegenwa&#x0364;r-<lb/>
&#x201E;tig bleibet, oder lebhafter hervorgehet, ingleichen<lb/>
&#x201E;wenn wir zu einer Reflexion, oder zu einem Tenk-<lb/>
&#x201E;aktus, oder zu einer andern Tha&#x0364;tigkeit <hi rendition="#fr">leidentlich</hi> be-<lb/>
&#x201E;&#x017F;timmet werden: &#x017F;o finden wir uns auf eine a&#x0364;hnliche<lb/>
&#x201E;Art modificiret, als es nach der zwoten Erfahrung |in<lb/>
&#x201E;&#x017F;olchen Fa&#x0364;llen ge&#x017F;chieht, wo eine Krafta&#x0364;ußerung un-<lb/>
&#x201E;mittelbar auf ein Gefu&#x0364;hl erfolget, zu der die&#x017F;es Gefu&#x0364;hl<lb/>
&#x201E;uns be&#x017F;timmet.&#x201F;</p><lb/>
            <p>Jch bin in einer Leiden&#x017F;chaft, oder es wallet doch<lb/>
das Geblu&#x0364;t noch jetzo von ihr. Die vorigen Jdeen<lb/>
&#x017F;teigen von Zeit zu Zeit wieder auf, und reizen zu den<lb/>
vorigen Aktionen, die dann auch wohl zum Theil wirk-<lb/>
lich wieder erfolgen. Aber es i&#x017F;t nicht &#x017F;chwer zu be-<lb/>
merken, daß, was hier <hi rendition="#fr">leidentlich</hi> erfolget, <hi rendition="#fr">unterbro-</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">chen,</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[80/0110] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit auf eine ſolche Art vorhanden iſt, daß wir uns ihrer bewußtſeyn koͤnnten. Die Kraft der Seele iſt das wirkſame Princip in dem Fall, wenn die Veraͤnde- rung eine Kraftaͤußerung iſt; und dann iſt das koͤr- perliche Organ das leidende, das nichts mehr thut, als bloß allein zuruͤckwirket; aber hingegen iſt das Or- gan das wirkende Princip, und die Seele reagirt nur leidentlich in den Empfindungen. Kann nun das Koͤr- perliche in dem Organ, die materielle Jdee, oder, wie wir es nennen wollen, die harmoniſche Veraͤnde- rung, die zu einer Seelenthaͤtigkeit gehoͤret, durch Ur- ſachen in dem Koͤrper gegenwaͤrtig gemacht werden, ſo kann die Seele dadurch leiden, und dann inſtinktartig zu dem begleitenden, vorſtellenden oder denkenden Aktus beſtimmet werden. Jedoch alle Erklaͤrungen bey Seite geſetzt, will ich noch Eine Bemerkung zu den vorigen hinzuſetzen. Dieß ſoll der fuͤnfte Erfahrungsſatz ſeyn. „Wenn es „uns nach der dritten und vierten Beobachtung begegnet, „daß eine Vorſtellung ohne ein Gefuͤhl unſers eignen „Beſtrebens in uns gegenwaͤrtig wird, oder gegenwaͤr- „tig bleibet, oder lebhafter hervorgehet, ingleichen „wenn wir zu einer Reflexion, oder zu einem Tenk- „aktus, oder zu einer andern Thaͤtigkeit leidentlich be- „ſtimmet werden: ſo finden wir uns auf eine aͤhnliche „Art modificiret, als es nach der zwoten Erfahrung |in „ſolchen Faͤllen geſchieht, wo eine Kraftaͤußerung un- „mittelbar auf ein Gefuͤhl erfolget, zu der dieſes Gefuͤhl „uns beſtimmet.‟ Jch bin in einer Leidenſchaft, oder es wallet doch das Gebluͤt noch jetzo von ihr. Die vorigen Jdeen ſteigen von Zeit zu Zeit wieder auf, und reizen zu den vorigen Aktionen, die dann auch wohl zum Theil wirk- lich wieder erfolgen. Aber es iſt nicht ſchwer zu be- merken, daß, was hier leidentlich erfolget, unterbro- chen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/110
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/110>, abgerufen am 27.11.2024.