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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Freyheit.

Von dieser Vorstellung läßt sich vielleicht alsdenn
Gebrauch machen, wenn die Frage ist, wie das imma-
terielle Jch, und ihr inneres Organ, in Vereinigung
als ein Wesen wirken, und sich auf einander beziehen?
Dagegen aber hier, wo wir das ganze vorstellende, den-
kende und wollende Eins, als die Seele ansehen, der
man den organisirten Körper entgegensetzet, scheinet
man ihn nicht anwenden zu können. Wenigstens ist
die Vorstellung natürlicher, daß das gesammte innere
wirksame Princip, oder der ganze zureichende Grund
der Aktionen in der Seele, als dem Subjekt selbst vor-
handen sey, nachdem sie durch Eindrücke von außen
modificiret worden ist.

Jst das innere Princip der Seele vor der Erweckung
von außen, nur bloßes Vermögen, was ist es als Ver-
mögen? Ein innerer noch unzureichender Grund
zu einer Thätigkeit.
Wie wird dieser unzureichen-
de
Grund in einen zureichenden verwandelt? Kann
eine solche Erweckung dadurch beschaffet werden, wenn
das vermögende Wesen leidentliche Modifikationen
von andern empfängt, wie etwan, nach unsern sinnli-
chen Vorstellungen zu urtheilen, die vorher ruhende
Kanonenkugel durch die Wirkung des Pulvers, oder
durch den Stoß anderer, eine zerschmetternde Kraft
bekommt, die sie vorher nicht besitzet? Oder gibt es
durchaus kein ganz unwirksames Vermögen, etwas
zu thun, keine todte Fähigkeiten oder Kräfte, wie
einige solche bloße Vermögen nennen, ohne Wirksam-
keit? wie es nach der Meinung verschiedener großen
Philosophen nicht geben kann, weil sonsten nicht zu be-
greifen sey, wie ein unwirksames Vermögen in eine
thätige Kraft übergehen könne. Jst aber vorher schon
das bloße Vermögen etwas wirksames, so ließe sich die
Erweckung dieser todten Kraft zu einer lebendigen, wel-
che durch die Einwirkung einer fremden Kraft verursa-

chet
E 4
und Freyheit.

Von dieſer Vorſtellung laͤßt ſich vielleicht alsdenn
Gebrauch machen, wenn die Frage iſt, wie das imma-
terielle Jch, und ihr inneres Organ, in Vereinigung
als ein Weſen wirken, und ſich auf einander beziehen?
Dagegen aber hier, wo wir das ganze vorſtellende, den-
kende und wollende Eins, als die Seele anſehen, der
man den organiſirten Koͤrper entgegenſetzet, ſcheinet
man ihn nicht anwenden zu koͤnnen. Wenigſtens iſt
die Vorſtellung natuͤrlicher, daß das geſammte innere
wirkſame Princip, oder der ganze zureichende Grund
der Aktionen in der Seele, als dem Subjekt ſelbſt vor-
handen ſey, nachdem ſie durch Eindruͤcke von außen
modificiret worden iſt.

Jſt das innere Princip der Seele vor der Erweckung
von außen, nur bloßes Vermoͤgen, was iſt es als Ver-
moͤgen? Ein innerer noch unzureichender Grund
zu einer Thaͤtigkeit.
Wie wird dieſer unzureichen-
de
Grund in einen zureichenden verwandelt? Kann
eine ſolche Erweckung dadurch beſchaffet werden, wenn
das vermoͤgende Weſen leidentliche Modifikationen
von andern empfaͤngt, wie etwan, nach unſern ſinnli-
chen Vorſtellungen zu urtheilen, die vorher ruhende
Kanonenkugel durch die Wirkung des Pulvers, oder
durch den Stoß anderer, eine zerſchmetternde Kraft
bekommt, die ſie vorher nicht beſitzet? Oder gibt es
durchaus kein ganz unwirkſames Vermoͤgen, etwas
zu thun, keine todte Faͤhigkeiten oder Kraͤfte, wie
einige ſolche bloße Vermoͤgen nennen, ohne Wirkſam-
keit? wie es nach der Meinung verſchiedener großen
Philoſophen nicht geben kann, weil ſonſten nicht zu be-
greifen ſey, wie ein unwirkſames Vermoͤgen in eine
thaͤtige Kraft uͤbergehen koͤnne. Jſt aber vorher ſchon
das bloße Vermoͤgen etwas wirkſames, ſo ließe ſich die
Erweckung dieſer todten Kraft zu einer lebendigen, wel-
che durch die Einwirkung einer fremden Kraft verurſa-

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[71/0101] und Freyheit. Von dieſer Vorſtellung laͤßt ſich vielleicht alsdenn Gebrauch machen, wenn die Frage iſt, wie das imma- terielle Jch, und ihr inneres Organ, in Vereinigung als ein Weſen wirken, und ſich auf einander beziehen? Dagegen aber hier, wo wir das ganze vorſtellende, den- kende und wollende Eins, als die Seele anſehen, der man den organiſirten Koͤrper entgegenſetzet, ſcheinet man ihn nicht anwenden zu koͤnnen. Wenigſtens iſt die Vorſtellung natuͤrlicher, daß das geſammte innere wirkſame Princip, oder der ganze zureichende Grund der Aktionen in der Seele, als dem Subjekt ſelbſt vor- handen ſey, nachdem ſie durch Eindruͤcke von außen modificiret worden iſt. Jſt das innere Princip der Seele vor der Erweckung von außen, nur bloßes Vermoͤgen, was iſt es als Ver- moͤgen? Ein innerer noch unzureichender Grund zu einer Thaͤtigkeit. Wie wird dieſer unzureichen- de Grund in einen zureichenden verwandelt? Kann eine ſolche Erweckung dadurch beſchaffet werden, wenn das vermoͤgende Weſen leidentliche Modifikationen von andern empfaͤngt, wie etwan, nach unſern ſinnli- chen Vorſtellungen zu urtheilen, die vorher ruhende Kanonenkugel durch die Wirkung des Pulvers, oder durch den Stoß anderer, eine zerſchmetternde Kraft bekommt, die ſie vorher nicht beſitzet? Oder gibt es durchaus kein ganz unwirkſames Vermoͤgen, etwas zu thun, keine todte Faͤhigkeiten oder Kraͤfte, wie einige ſolche bloße Vermoͤgen nennen, ohne Wirkſam- keit? wie es nach der Meinung verſchiedener großen Philoſophen nicht geben kann, weil ſonſten nicht zu be- greifen ſey, wie ein unwirkſames Vermoͤgen in eine thaͤtige Kraft uͤbergehen koͤnne. Jſt aber vorher ſchon das bloße Vermoͤgen etwas wirkſames, ſo ließe ſich die Erweckung dieſer todten Kraft zu einer lebendigen, wel- che durch die Einwirkung einer fremden Kraft verurſa- chet E 4

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/101>, abgerufen am 28.11.2024.