reichet sie auch hin, die Sprachfähigkeit wirksam zu ma- chen.
Die Versuche mit auszusetzenden Kindern, die ohne Anführung und Sprache groß gefüttert seyn sollen, wür- den ohne Zweifel vielmal mißlingen; und möchten mißlin- gen, ohne daß eine allgemeine Urfähigkeit aller Jndividuen zur Erfindung der Sprache daraus geschlossen werden könn- te. Wer stehet dafür, daß man unter diesen Menschen ei- nen von der seltenen Art getroffen hätte, oder daß die Um- stände, unter welche man sie setzet, so sind, wie die Umstände der Naturmenschen in der Welt? Aber wenn dagegen ein einziger Versuch zeigte, daß eine Sprache von selbst erfun- den würde, so wäre die Jdee, die ich hier vertheidige, auf einmal völlig durch die Erfahrung bestätiget.
Man möchte vielleicht sagen, was die Genies bey al- len Nationen gethan haben, könne mit der Erfindung einer Sprache, wo noch keine ist, nicht verglichen werden. Jhre Selbstentwickelung unter den vortheilhaften Umständen bestand in nichts mehr, als in einem weitern Fortgang auf einer Bahn, auf die sie von andern schon gebracht waren. Jst schon Vernunft da, so kann sie sich erweitern; allein hier ist von den ersten Anfängen des Denkens und des Sprechens die Rede. Sollte man schließen können, weil es allenthal- ben originelle Köpfe gegeben hat, die weiter gedrungen sind, durch innere und äußere Kraft der sich selbst überlassenen Natur, so würden solche auch den Schritt von thierischer Sinnlichkeit zur menschlichen Vernunft, und von Sprach- losigkeit zur Sprache thun können, und thun müssen, wenn sie ihn noch nicht gethan hätten, vorausgesetzt, daß sie dem- selbigen Einfluß der äußern Ursachen unterworfen gewesen?
Wenn man überlegt, daß auch dieser erste Anfang des Denkens und des Sprechens in einem vernunft- und sprachfähigen Wesen, wie der Mensch ist, nichts anders ist, als ein Fortrücken desjenigen Zustandes, der zunächst vor- hergehet, und den der Mensch als Thier in Gesellschaft mit seines Gleichen erreichen kann, so deucht mich, ein solcher
Schluß
zum eilften Verſuch.
reichet ſie auch hin, die Sprachfaͤhigkeit wirkſam zu ma- chen.
Die Verſuche mit auszuſetzenden Kindern, die ohne Anfuͤhrung und Sprache groß gefuͤttert ſeyn ſollen, wuͤr- den ohne Zweifel vielmal mißlingen; und moͤchten mißlin- gen, ohne daß eine allgemeine Urfaͤhigkeit aller Jndividuen zur Erfindung der Sprache daraus geſchloſſen werden koͤnn- te. Wer ſtehet dafuͤr, daß man unter dieſen Menſchen ei- nen von der ſeltenen Art getroffen haͤtte, oder daß die Um- ſtaͤnde, unter welche man ſie ſetzet, ſo ſind, wie die Umſtaͤnde der Naturmenſchen in der Welt? Aber wenn dagegen ein einziger Verſuch zeigte, daß eine Sprache von ſelbſt erfun- den wuͤrde, ſo waͤre die Jdee, die ich hier vertheidige, auf einmal voͤllig durch die Erfahrung beſtaͤtiget.
Man moͤchte vielleicht ſagen, was die Genies bey al- len Nationen gethan haben, koͤnne mit der Erfindung einer Sprache, wo noch keine iſt, nicht verglichen werden. Jhre Selbſtentwickelung unter den vortheilhaften Umſtaͤnden beſtand in nichts mehr, als in einem weitern Fortgang auf einer Bahn, auf die ſie von andern ſchon gebracht waren. Jſt ſchon Vernunft da, ſo kann ſie ſich erweitern; allein hier iſt von den erſten Anfaͤngen des Denkens und des Sprechens die Rede. Sollte man ſchließen koͤnnen, weil es allenthal- ben originelle Koͤpfe gegeben hat, die weiter gedrungen ſind, durch innere und aͤußere Kraft der ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Natur, ſo wuͤrden ſolche auch den Schritt von thieriſcher Sinnlichkeit zur menſchlichen Vernunft, und von Sprach- loſigkeit zur Sprache thun koͤnnen, und thun muͤſſen, wenn ſie ihn noch nicht gethan haͤtten, vorausgeſetzt, daß ſie dem- ſelbigen Einfluß der aͤußern Urſachen unterworfen geweſen?
Wenn man uͤberlegt, daß auch dieſer erſte Anfang des Denkens und des Sprechens in einem vernunft- und ſprachfaͤhigen Weſen, wie der Menſch iſt, nichts anders iſt, als ein Fortruͤcken desjenigen Zuſtandes, der zunaͤchſt vor- hergehet, und den der Menſch als Thier in Geſellſchaft mit ſeines Gleichen erreichen kann, ſo deucht mich, ein ſolcher
Schluß
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zum eilften Verſuch.
reichet ſie auch hin, die Sprachfaͤhigkeit wirkſam zu ma-
chen.
Die Verſuche mit auszuſetzenden Kindern, die ohne
Anfuͤhrung und Sprache groß gefuͤttert ſeyn ſollen, wuͤr-
den ohne Zweifel vielmal mißlingen; und moͤchten mißlin-
gen, ohne daß eine allgemeine Urfaͤhigkeit aller Jndividuen
zur Erfindung der Sprache daraus geſchloſſen werden koͤnn-
te. Wer ſtehet dafuͤr, daß man unter dieſen Menſchen ei-
nen von der ſeltenen Art getroffen haͤtte, oder daß die Um-
ſtaͤnde, unter welche man ſie ſetzet, ſo ſind, wie die Umſtaͤnde
der Naturmenſchen in der Welt? Aber wenn dagegen ein
einziger Verſuch zeigte, daß eine Sprache von ſelbſt erfun-
den wuͤrde, ſo waͤre die Jdee, die ich hier vertheidige, auf
einmal voͤllig durch die Erfahrung beſtaͤtiget.
Man moͤchte vielleicht ſagen, was die Genies bey al-
len Nationen gethan haben, koͤnne mit der Erfindung einer
Sprache, wo noch keine iſt, nicht verglichen werden. Jhre
Selbſtentwickelung unter den vortheilhaften Umſtaͤnden
beſtand in nichts mehr, als in einem weitern Fortgang auf
einer Bahn, auf die ſie von andern ſchon gebracht waren. Jſt
ſchon Vernunft da, ſo kann ſie ſich erweitern; allein hier iſt
von den erſten Anfaͤngen des Denkens und des Sprechens
die Rede. Sollte man ſchließen koͤnnen, weil es allenthal-
ben originelle Koͤpfe gegeben hat, die weiter gedrungen ſind,
durch innere und aͤußere Kraft der ſich ſelbſt uͤberlaſſenen
Natur, ſo wuͤrden ſolche auch den Schritt von thieriſcher
Sinnlichkeit zur menſchlichen Vernunft, und von Sprach-
loſigkeit zur Sprache thun koͤnnen, und thun muͤſſen, wenn
ſie ihn noch nicht gethan haͤtten, vorausgeſetzt, daß ſie dem-
ſelbigen Einfluß der aͤußern Urſachen unterworfen geweſen?
Wenn man uͤberlegt, daß auch dieſer erſte Anfang des
Denkens und des Sprechens in einem vernunft- und
ſprachfaͤhigen Weſen, wie der Menſch iſt, nichts anders iſt,
als ein Fortruͤcken desjenigen Zuſtandes, der zunaͤchſt vor-
hergehet, und den der Menſch als Thier in Geſellſchaft mit
ſeines Gleichen erreichen kann, ſo deucht mich, ein ſolcher
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 783. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/843>, abgerufen am 28.11.2024.
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