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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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Anhang

Ob der Mensch wirklich selbst die Sprache er-
funden habe,
ist alsdenn zugleich aus Gründen ent-
schieden, wenn von diesen beiden erwähnten äußersten Mei-
nungen Eine richtig ist. Kann der Mensch durchaus die
Sprache nicht selbst erfinden, so hat er sie gewiß nur aus
Anführung und Unterricht. Muß jedes Jndividuum von
selbst auf die Sprache kommen, so hat auch Adam seine erste
Sprache selbst gebildet. Bey den übrigen Hypothesen,
die zwischen diesen in der Mitte liegen, ist die Frage von dem
wirklichen Ursprung der Sprache historisch, und gänzlich
von der philosophischen Untersuchung dessen, was geschehen
kann, unabhängig. Denn wenn auch der Mensch eine
Sprache erfinden kann, und sie etwan nach Jahrtausenden
endlich gefunden haben würde; so konnte der Vater der
Menschen doch wohl seine weisen Ursachen haben, den An-
fang ihres Geschlechts nicht auf den äußerst niedrigsten
Punkt seiner möglichen Selbstentwickelung zurückzusetzen.
Konnte er nicht Ursachen haben, Pflanzen in der Blüthe zu
erschaffen? Die Geschichte muß hier entscheiden, oder
es ist nicht zu entscheiden.

Wenn Süßmilch die Natur der Sprachen in ihrer
Grundeinrichtung, in dem Verhältniß der Mittel zur
Absicht zu weisheitvoll fand, um sie für eine Erfindung
von Menschenwitz zu halten; so findet Hr. Herder solche
zu menschlich, um ihren Ursprung unmittelbar von Gott
abzuleiten. Die wahren Fakta beweisen, wie mich
deucht, auf beiden Seiten nichts. Die Sprachen sind
der Natur des Menschen, und den Seelenkräften, ihrer
Stärke und Schwäche angemessen. So mußte es seyn,
wenn sie selbsteigene Wirkungen von jenen sind. Findet
sich nicht eine gleiche Zweckmäßigkeit in den Ausbildun-
gen und Erweiterungen der Sprachen, wovon es doch
außer Zweifel ist, daß sie ohne einen göttlichen Unter-
richt aus Menschenwitz entsprossen sind. Auf der andern
Seite folget es auch nicht, daß die erste Anlage der
Sprachen, ihre Grundtheile, und die Grundökonomie

in
Anhang

Ob der Menſch wirklich ſelbſt die Sprache er-
funden habe,
iſt alsdenn zugleich aus Gruͤnden ent-
ſchieden, wenn von dieſen beiden erwaͤhnten aͤußerſten Mei-
nungen Eine richtig iſt. Kann der Menſch durchaus die
Sprache nicht ſelbſt erfinden, ſo hat er ſie gewiß nur aus
Anfuͤhrung und Unterricht. Muß jedes Jndividuum von
ſelbſt auf die Sprache kommen, ſo hat auch Adam ſeine erſte
Sprache ſelbſt gebildet. Bey den uͤbrigen Hypotheſen,
die zwiſchen dieſen in der Mitte liegen, iſt die Frage von dem
wirklichen Urſprung der Sprache hiſtoriſch, und gaͤnzlich
von der philoſophiſchen Unterſuchung deſſen, was geſchehen
kann, unabhaͤngig. Denn wenn auch der Menſch eine
Sprache erfinden kann, und ſie etwan nach Jahrtauſenden
endlich gefunden haben wuͤrde; ſo konnte der Vater der
Menſchen doch wohl ſeine weiſen Urſachen haben, den An-
fang ihres Geſchlechts nicht auf den aͤußerſt niedrigſten
Punkt ſeiner moͤglichen Selbſtentwickelung zuruͤckzuſetzen.
Konnte er nicht Urſachen haben, Pflanzen in der Bluͤthe zu
erſchaffen? Die Geſchichte muß hier entſcheiden, oder
es iſt nicht zu entſcheiden.

Wenn Suͤßmilch die Natur der Sprachen in ihrer
Grundeinrichtung, in dem Verhaͤltniß der Mittel zur
Abſicht zu weisheitvoll fand, um ſie fuͤr eine Erfindung
von Menſchenwitz zu halten; ſo findet Hr. Herder ſolche
zu menſchlich, um ihren Urſprung unmittelbar von Gott
abzuleiten. Die wahren Fakta beweiſen, wie mich
deucht, auf beiden Seiten nichts. Die Sprachen ſind
der Natur des Menſchen, und den Seelenkraͤften, ihrer
Staͤrke und Schwaͤche angemeſſen. So mußte es ſeyn,
wenn ſie ſelbſteigene Wirkungen von jenen ſind. Findet
ſich nicht eine gleiche Zweckmaͤßigkeit in den Ausbildun-
gen und Erweiterungen der Sprachen, wovon es doch
außer Zweifel iſt, daß ſie ohne einen goͤttlichen Unter-
richt aus Menſchenwitz entſproſſen ſind. Auf der andern
Seite folget es auch nicht, daß die erſte Anlage der
Sprachen, ihre Grundtheile, und die Grundoͤkonomie

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[776/0836] Anhang Ob der Menſch wirklich ſelbſt die Sprache er- funden habe, iſt alsdenn zugleich aus Gruͤnden ent- ſchieden, wenn von dieſen beiden erwaͤhnten aͤußerſten Mei- nungen Eine richtig iſt. Kann der Menſch durchaus die Sprache nicht ſelbſt erfinden, ſo hat er ſie gewiß nur aus Anfuͤhrung und Unterricht. Muß jedes Jndividuum von ſelbſt auf die Sprache kommen, ſo hat auch Adam ſeine erſte Sprache ſelbſt gebildet. Bey den uͤbrigen Hypotheſen, die zwiſchen dieſen in der Mitte liegen, iſt die Frage von dem wirklichen Urſprung der Sprache hiſtoriſch, und gaͤnzlich von der philoſophiſchen Unterſuchung deſſen, was geſchehen kann, unabhaͤngig. Denn wenn auch der Menſch eine Sprache erfinden kann, und ſie etwan nach Jahrtauſenden endlich gefunden haben wuͤrde; ſo konnte der Vater der Menſchen doch wohl ſeine weiſen Urſachen haben, den An- fang ihres Geſchlechts nicht auf den aͤußerſt niedrigſten Punkt ſeiner moͤglichen Selbſtentwickelung zuruͤckzuſetzen. Konnte er nicht Urſachen haben, Pflanzen in der Bluͤthe zu erſchaffen? Die Geſchichte muß hier entſcheiden, oder es iſt nicht zu entſcheiden. Wenn Suͤßmilch die Natur der Sprachen in ihrer Grundeinrichtung, in dem Verhaͤltniß der Mittel zur Abſicht zu weisheitvoll fand, um ſie fuͤr eine Erfindung von Menſchenwitz zu halten; ſo findet Hr. Herder ſolche zu menſchlich, um ihren Urſprung unmittelbar von Gott abzuleiten. Die wahren Fakta beweiſen, wie mich deucht, auf beiden Seiten nichts. Die Sprachen ſind der Natur des Menſchen, und den Seelenkraͤften, ihrer Staͤrke und Schwaͤche angemeſſen. So mußte es ſeyn, wenn ſie ſelbſteigene Wirkungen von jenen ſind. Findet ſich nicht eine gleiche Zweckmaͤßigkeit in den Ausbildun- gen und Erweiterungen der Sprachen, wovon es doch außer Zweifel iſt, daß ſie ohne einen goͤttlichen Unter- richt aus Menſchenwitz entſproſſen ſind. Auf der andern Seite folget es auch nicht, daß die erſte Anlage der Sprachen, ihre Grundtheile, und die Grundoͤkonomie in

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 776. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/836>, abgerufen am 24.11.2024.