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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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zum eilften Versuch.

Wenn man behauptet, der Mensch müsse als Mensch
durch seine angebohrne Sprachfähigkeit von selbst eine
Sprache bilden, woraus denn folget, daß auch jedwedes
Jndividuum, wenn es lebet, fortwächset, und nur mit
allen menschlichen Sinnen versehen ist, sich Begriffe und
Sprache verschaffen könne; so hat man doch offenbar die
Erfahrung gegen sich. Die Bär- und Schaafmenschen
haben weder Begriffe noch Sprache gehabt, und waren
doch vollständige Menschen, hatten Vernunft in der An-
lage, und Sprachfähigkeit, so weit als diese ein wesent-
licher Charakter der Menschheit ist. Wie viele einzelne
Jndividuen mitten unter den kultivirten Völkern, wür-
den der größten Wahrscheinlichkeit nach, nicht ebenfalls
wohl vernunft- und sprachlos bleiben, wenn die von eini-
gen vorgeschlagene Versuche mit ihnen angestellet, und
sie von allen sprechenden Menschen abgesondert, ihrer
eigenen Naturkraft zur Ausbildung überlassen würden?
Tausend Versuche dieser Art möchten vielleicht alle zu-
sammen mit Süßmilchs Meinung übereinstimmen.

Vielleicht ist es des Hrn. Herders Meinung nicht,
daß jedwedes menschliche Jndividuum durch seine innere
Naturkräfte nothwendig selbst eine Sprache erfinden
müsse, wenn ihm nur seine volle Menschheit unverletzt
bleibet; denn er giebt es selbst zu, daß die freye von in-
nen heraustreibende Grundkraft aufgehalten, geschwächet
und unterdrücket werden könne, wie das Beyspiel an dem
Bärmenschen gelehret hat. Es ist eine Pflanze, sagt er,
auf die man einen Stein geleget hat, und die nun des-
wegen schief wächst. Allein sein Beweisgrund, der
Mensch ist ein besonnenes und sprachfähiges Wesen,
beweiset entweder für jedwedes einzelnes vollständiges
Menschengeschöpf, dessen innere Naturkraft nur nicht
gewaltsam zurückgepreßt, oder in eine unnatürliche Rich-
tung gebracht wird, oder er beweiset gar nicht, was er
beweisen soll, nemlich die Selbsthinreichlichkeit zur Ausbil-
dung ohne Unterricht und Beyspiel.

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zum eilften Verſuch.

Wenn man behauptet, der Menſch muͤſſe als Menſch
durch ſeine angebohrne Sprachfaͤhigkeit von ſelbſt eine
Sprache bilden, woraus denn folget, daß auch jedwedes
Jndividuum, wenn es lebet, fortwaͤchſet, und nur mit
allen menſchlichen Sinnen verſehen iſt, ſich Begriffe und
Sprache verſchaffen koͤnne; ſo hat man doch offenbar die
Erfahrung gegen ſich. Die Baͤr- und Schaafmenſchen
haben weder Begriffe noch Sprache gehabt, und waren
doch vollſtaͤndige Menſchen, hatten Vernunft in der An-
lage, und Sprachfaͤhigkeit, ſo weit als dieſe ein weſent-
licher Charakter der Menſchheit iſt. Wie viele einzelne
Jndividuen mitten unter den kultivirten Voͤlkern, wuͤr-
den der groͤßten Wahrſcheinlichkeit nach, nicht ebenfalls
wohl vernunft- und ſprachlos bleiben, wenn die von eini-
gen vorgeſchlagene Verſuche mit ihnen angeſtellet, und
ſie von allen ſprechenden Menſchen abgeſondert, ihrer
eigenen Naturkraft zur Ausbildung uͤberlaſſen wuͤrden?
Tauſend Verſuche dieſer Art moͤchten vielleicht alle zu-
ſammen mit Suͤßmilchs Meinung uͤbereinſtimmen.

Vielleicht iſt es des Hrn. Herders Meinung nicht,
daß jedwedes menſchliche Jndividuum durch ſeine innere
Naturkraͤfte nothwendig ſelbſt eine Sprache erfinden
muͤſſe, wenn ihm nur ſeine volle Menſchheit unverletzt
bleibet; denn er giebt es ſelbſt zu, daß die freye von in-
nen heraustreibende Grundkraft aufgehalten, geſchwaͤchet
und unterdruͤcket werden koͤnne, wie das Beyſpiel an dem
Baͤrmenſchen gelehret hat. Es iſt eine Pflanze, ſagt er,
auf die man einen Stein geleget hat, und die nun des-
wegen ſchief waͤchſt. Allein ſein Beweisgrund, der
Menſch iſt ein beſonnenes und ſprachfaͤhiges Weſen,
beweiſet entweder fuͤr jedwedes einzelnes vollſtaͤndiges
Menſchengeſchoͤpf, deſſen innere Naturkraft nur nicht
gewaltſam zuruͤckgepreßt, oder in eine unnatuͤrliche Rich-
tung gebracht wird, oder er beweiſet gar nicht, was er
beweiſen ſoll, nemlich die Selbſthinreichlichkeit zur Ausbil-
dung ohne Unterricht und Beyſpiel.

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[775/0835] zum eilften Verſuch. Wenn man behauptet, der Menſch muͤſſe als Menſch durch ſeine angebohrne Sprachfaͤhigkeit von ſelbſt eine Sprache bilden, woraus denn folget, daß auch jedwedes Jndividuum, wenn es lebet, fortwaͤchſet, und nur mit allen menſchlichen Sinnen verſehen iſt, ſich Begriffe und Sprache verſchaffen koͤnne; ſo hat man doch offenbar die Erfahrung gegen ſich. Die Baͤr- und Schaafmenſchen haben weder Begriffe noch Sprache gehabt, und waren doch vollſtaͤndige Menſchen, hatten Vernunft in der An- lage, und Sprachfaͤhigkeit, ſo weit als dieſe ein weſent- licher Charakter der Menſchheit iſt. Wie viele einzelne Jndividuen mitten unter den kultivirten Voͤlkern, wuͤr- den der groͤßten Wahrſcheinlichkeit nach, nicht ebenfalls wohl vernunft- und ſprachlos bleiben, wenn die von eini- gen vorgeſchlagene Verſuche mit ihnen angeſtellet, und ſie von allen ſprechenden Menſchen abgeſondert, ihrer eigenen Naturkraft zur Ausbildung uͤberlaſſen wuͤrden? Tauſend Verſuche dieſer Art moͤchten vielleicht alle zu- ſammen mit Suͤßmilchs Meinung uͤbereinſtimmen. Vielleicht iſt es des Hrn. Herders Meinung nicht, daß jedwedes menſchliche Jndividuum durch ſeine innere Naturkraͤfte nothwendig ſelbſt eine Sprache erfinden muͤſſe, wenn ihm nur ſeine volle Menſchheit unverletzt bleibet; denn er giebt es ſelbſt zu, daß die freye von in- nen heraustreibende Grundkraft aufgehalten, geſchwaͤchet und unterdruͤcket werden koͤnne, wie das Beyſpiel an dem Baͤrmenſchen gelehret hat. Es iſt eine Pflanze, ſagt er, auf die man einen Stein geleget hat, und die nun des- wegen ſchief waͤchſt. Allein ſein Beweisgrund, der Menſch iſt ein beſonnenes und ſprachfaͤhiges Weſen, beweiſet entweder fuͤr jedwedes einzelnes vollſtaͤndiges Menſchengeſchoͤpf, deſſen innere Naturkraft nur nicht gewaltſam zuruͤckgepreßt, oder in eine unnatuͤrliche Rich- tung gebracht wird, oder er beweiſet gar nicht, was er beweiſen ſoll, nemlich die Selbſthinreichlichkeit zur Ausbil- dung ohne Unterricht und Beyſpiel. Ob C c c 4

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 775. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/835>, abgerufen am 28.11.2024.