in diesem Verstande lieget in jedwedem Gefühl einer Menschenseele schon der Ansatz zum Gedanken. Denn jedwede einzelne Handlung einer Substanz ist in ihrer völligen Jndividualität betrachtet, ein Effekt von ihren gesammten Naturvermögen, ob sie gleich nicht von je- dem einzelnen Vermögen hervorstechende Züge in sich ent- hält. Nur sind wir dadurch noch nicht berechtiget, zu sagen, das neugebohrne Kind mache schon Schlüsse, und handle mit Freyheit. Die Blüthen und die Früchte des Baums sind ihrer Anlage nach in der jungen Pflanze, die aus der Erde hervorgeht. Aber auch nur der Anlage nach, welches freylich nach der Jdee derer, die die Evolution behaupten, eben so viel ist, als dem Anfang nach. Jndessen wenn auch die Anfänge oder die ersten Elemente vorhanden sind, so ist es doch mehr sinnreich und schon als philosophisch richtig gesagt, daß die Sache selbst schon im kleinen vorhanden sey. Die erfoderliche Größe giebt ihr erst ihr Wesen und ihren Namen, und der Anfang der Sache kann gar sehr von der Sache selbst unterschieden seyn.
Jst die angebohrne Perfektibilität der menschlichen Seele größer, als bey den Thieren, so kann es damit, wie oben schon erinnert ist, wohl bestehen, daß dennoch die Thierseelen mit größern und schnellern Schritten zu ihrer völligen Auswickelung fortgehen, als die Menschen- seelen. Denn man kann nicht schließen, weil das Thier sich seiner Sinne schneller bedienen lernet, und an Seele und Körper geschwinder zu seiner größten Vollkommen- heit gelanget, als der Mensch, so müsse die Perfektibi- lität, als eine positive Eigenschaft der angebohrnen Na- turkraft bey jenen stärker wirken und größer seyn, als bey den langsamer sich entwickelnden Menschen. Der Vor- zug des Menschen soll in einer größern Anlage an See- lenvermögen bestehen. Die Seelenkraft ist aber nicht einerley mit der ganzen Lebens- und Einwickelungs-
kraft
der menſchlichen Seele ⁊c.
in dieſem Verſtande lieget in jedwedem Gefuͤhl einer Menſchenſeele ſchon der Anſatz zum Gedanken. Denn jedwede einzelne Handlung einer Subſtanz iſt in ihrer voͤlligen Jndividualitaͤt betrachtet, ein Effekt von ihren geſammten Naturvermoͤgen, ob ſie gleich nicht von je- dem einzelnen Vermoͤgen hervorſtechende Zuͤge in ſich ent- haͤlt. Nur ſind wir dadurch noch nicht berechtiget, zu ſagen, das neugebohrne Kind mache ſchon Schluͤſſe, und handle mit Freyheit. Die Bluͤthen und die Fruͤchte des Baums ſind ihrer Anlage nach in der jungen Pflanze, die aus der Erde hervorgeht. Aber auch nur der Anlage nach, welches freylich nach der Jdee derer, die die Evolution behaupten, eben ſo viel iſt, als dem Anfang nach. Jndeſſen wenn auch die Anfaͤnge oder die erſten Elemente vorhanden ſind, ſo iſt es doch mehr ſinnreich und ſchon als philoſophiſch richtig geſagt, daß die Sache ſelbſt ſchon im kleinen vorhanden ſey. Die erfoderliche Groͤße giebt ihr erſt ihr Weſen und ihren Namen, und der Anfang der Sache kann gar ſehr von der Sache ſelbſt unterſchieden ſeyn.
Jſt die angebohrne Perfektibilitaͤt der menſchlichen Seele groͤßer, als bey den Thieren, ſo kann es damit, wie oben ſchon erinnert iſt, wohl beſtehen, daß dennoch die Thierſeelen mit groͤßern und ſchnellern Schritten zu ihrer voͤlligen Auswickelung fortgehen, als die Menſchen- ſeelen. Denn man kann nicht ſchließen, weil das Thier ſich ſeiner Sinne ſchneller bedienen lernet, und an Seele und Koͤrper geſchwinder zu ſeiner groͤßten Vollkommen- heit gelanget, als der Menſch, ſo muͤſſe die Perfektibi- litaͤt, als eine poſitive Eigenſchaft der angebohrnen Na- turkraft bey jenen ſtaͤrker wirken und groͤßer ſeyn, als bey den langſamer ſich entwickelnden Menſchen. Der Vor- zug des Menſchen ſoll in einer groͤßern Anlage an See- lenvermoͤgen beſtehen. Die Seelenkraft iſt aber nicht einerley mit der ganzen Lebens- und Einwickelungs-
kraft
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der menſchlichen Seele ⁊c.
in dieſem Verſtande lieget in jedwedem Gefuͤhl einer
Menſchenſeele ſchon der Anſatz zum Gedanken. Denn
jedwede einzelne Handlung einer Subſtanz iſt in ihrer
voͤlligen Jndividualitaͤt betrachtet, ein Effekt von ihren
geſammten Naturvermoͤgen, ob ſie gleich nicht von je-
dem einzelnen Vermoͤgen hervorſtechende Zuͤge in ſich ent-
haͤlt. Nur ſind wir dadurch noch nicht berechtiget, zu
ſagen, das neugebohrne Kind mache ſchon Schluͤſſe, und
handle mit Freyheit. Die Bluͤthen und die Fruͤchte des
Baums ſind ihrer Anlage nach in der jungen Pflanze,
die aus der Erde hervorgeht. Aber auch nur der
Anlage nach, welches freylich nach der Jdee derer,
die die Evolution behaupten, eben ſo viel iſt, als dem
Anfang nach. Jndeſſen wenn auch die Anfaͤnge oder
die erſten Elemente vorhanden ſind, ſo iſt es doch mehr
ſinnreich und ſchon als philoſophiſch richtig geſagt, daß
die Sache ſelbſt ſchon im kleinen vorhanden ſey. Die
erfoderliche Groͤße giebt ihr erſt ihr Weſen und ihren
Namen, und der Anfang der Sache kann gar ſehr von
der Sache ſelbſt unterſchieden ſeyn.
Jſt die angebohrne Perfektibilitaͤt der menſchlichen
Seele groͤßer, als bey den Thieren, ſo kann es damit,
wie oben ſchon erinnert iſt, wohl beſtehen, daß dennoch
die Thierſeelen mit groͤßern und ſchnellern Schritten zu
ihrer voͤlligen Auswickelung fortgehen, als die Menſchen-
ſeelen. Denn man kann nicht ſchließen, weil das Thier
ſich ſeiner Sinne ſchneller bedienen lernet, und an Seele
und Koͤrper geſchwinder zu ſeiner groͤßten Vollkommen-
heit gelanget, als der Menſch, ſo muͤſſe die Perfektibi-
litaͤt, als eine poſitive Eigenſchaft der angebohrnen Na-
turkraft bey jenen ſtaͤrker wirken und groͤßer ſeyn, als bey
den langſamer ſich entwickelnden Menſchen. Der Vor-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 763. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/823>, abgerufen am 22.11.2024.
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