Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.der menschlichen Seele etc. völlig außer Zweifel, daß keinem Thiere außer demMenschen von diesem Reflexionsvermögen etwas zu- komme? Verstand und Vernunft, oder ein höheres, entwickeltes und gewissermaßen gereiftes Reflexionsver- mögen besitzen sie nicht; aber auch mehr nicht als dieses lieget in den Gründen, die man gegen die Vernunft der Thiere anführen kann. Muß ihnen daher alles Denken überhaupt, auch die ersten Stufen desselben abgespro- chen werden? Haben sie nichts von dem Vermögen, Dinge in der Vorstellung auf einander zu beziehen? Gar nichts vom Gewahrnehmen und vom Bewußtseyn? Man kann die Wirkungen der thierischen Verschlagenheit, zur Noth wie Reimarus es gethan hat, aus dem bloßen Gefühl und der Vorstellungskraft erklären, wenn man abrechnet, was die Einbildungskraft derer, die in den Handlungen der Thiere so oft das Menschliche gewahr werden, weil sie solche, wie der Verfasser der Briefe über die Thiere und Menschen, durch die Begriffe von menschlichen Handlungen ansehen, hinzusetzet, ohne daß man die Apperception und irgend einen Reflexions- aktus zu Hülfe nehme. Sind aber diese Erklärungen deswegen sehr wahrscheinlich? und wenn es nur auf theoretische mögliche Erklärungsarten ankäme, sollte es einem Verfechter der Cartesischen Hypothese von dem seelenlosen Organismus so schwer werden, mit ihr ziem- lich weit durchzukommen? Vielleicht befürchtet man, wenn den Thieren einiger Antheil an der Denkkraft zu- gestanden würde, so könne ihnen auch der höhere Grad derselben, der den beobachtbaren Verstand ausmachet, nicht so ganz abgeläugnet werden, wogegen doch die Er- fahrung so starke Gründe an die Hand giebt. Aber die Besorgniß ist nicht sehr gegründet. Bey aller Ver- schiedenartigkeit der Thiere und der Menschen, die man so groß und tief sich erstreckend annehmen muß, als es die Verschiedenheit in ihren äußern Handlungen nur im- mer A a a 5
der menſchlichen Seele ⁊c. voͤllig außer Zweifel, daß keinem Thiere außer demMenſchen von dieſem Reflexionsvermoͤgen etwas zu- komme? Verſtand und Vernunft, oder ein hoͤheres, entwickeltes und gewiſſermaßen gereiftes Reflexionsver- moͤgen beſitzen ſie nicht; aber auch mehr nicht als dieſes lieget in den Gruͤnden, die man gegen die Vernunft der Thiere anfuͤhren kann. Muß ihnen daher alles Denken uͤberhaupt, auch die erſten Stufen deſſelben abgeſpro- chen werden? Haben ſie nichts von dem Vermoͤgen, Dinge in der Vorſtellung auf einander zu beziehen? Gar nichts vom Gewahrnehmen und vom Bewußtſeyn? Man kann die Wirkungen der thieriſchen Verſchlagenheit, zur Noth wie Reimarus es gethan hat, aus dem bloßen Gefuͤhl und der Vorſtellungskraft erklaͤren, wenn man abrechnet, was die Einbildungskraft derer, die in den Handlungen der Thiere ſo oft das Menſchliche gewahr werden, weil ſie ſolche, wie der Verfaſſer der Briefe uͤber die Thiere und Menſchen, durch die Begriffe von menſchlichen Handlungen anſehen, hinzuſetzet, ohne daß man die Apperception und irgend einen Reflexions- aktus zu Huͤlfe nehme. Sind aber dieſe Erklaͤrungen deswegen ſehr wahrſcheinlich? und wenn es nur auf theoretiſche moͤgliche Erklaͤrungsarten ankaͤme, ſollte es einem Verfechter der Carteſiſchen Hypotheſe von dem ſeelenloſen Organismus ſo ſchwer werden, mit ihr ziem- lich weit durchzukommen? Vielleicht befuͤrchtet man, wenn den Thieren einiger Antheil an der Denkkraft zu- geſtanden wuͤrde, ſo koͤnne ihnen auch der hoͤhere Grad derſelben, der den beobachtbaren Verſtand ausmachet, nicht ſo ganz abgelaͤugnet werden, wogegen doch die Er- fahrung ſo ſtarke Gruͤnde an die Hand giebt. Aber die Beſorgniß iſt nicht ſehr gegruͤndet. Bey aller Ver- ſchiedenartigkeit der Thiere und der Menſchen, die man ſo groß und tief ſich erſtreckend annehmen muß, als es die Verſchiedenheit in ihren aͤußern Handlungen nur im- mer A a a 5
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0805" n="745"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der menſchlichen Seele ⁊c.</hi></fw><lb/> voͤllig außer Zweifel, daß keinem Thiere außer dem<lb/> Menſchen von dieſem Reflexionsvermoͤgen etwas zu-<lb/> komme? Verſtand und Vernunft, oder ein hoͤheres,<lb/> entwickeltes und gewiſſermaßen gereiftes Reflexionsver-<lb/> moͤgen beſitzen ſie nicht; aber auch mehr nicht als dieſes<lb/> lieget in den Gruͤnden, die man gegen die Vernunft der<lb/> Thiere anfuͤhren kann. Muß ihnen daher alles Denken<lb/> uͤberhaupt, auch die erſten Stufen deſſelben abgeſpro-<lb/> chen werden? Haben ſie nichts von dem Vermoͤgen,<lb/> Dinge in der Vorſtellung auf einander zu beziehen? Gar<lb/> nichts vom Gewahrnehmen und vom Bewußtſeyn? Man<lb/> kann die Wirkungen der thieriſchen Verſchlagenheit, zur<lb/> Noth wie <hi rendition="#fr">Reimarus</hi> es gethan hat, aus dem bloßen<lb/> Gefuͤhl und der Vorſtellungskraft erklaͤren, wenn man<lb/> abrechnet, was die Einbildungskraft derer, die in den<lb/> Handlungen der Thiere ſo oft das Menſchliche gewahr<lb/> werden, weil ſie ſolche, wie der <hi rendition="#fr">Verfaſſer der Briefe<lb/> uͤber die Thiere und Menſchen,</hi> durch die Begriffe<lb/> von menſchlichen Handlungen anſehen, hinzuſetzet, ohne<lb/> daß man die Apperception und irgend einen Reflexions-<lb/> aktus zu Huͤlfe nehme. Sind aber dieſe Erklaͤrungen<lb/> deswegen ſehr wahrſcheinlich? und wenn es nur auf<lb/> theoretiſche moͤgliche Erklaͤrungsarten ankaͤme, ſollte es<lb/> einem Verfechter der Carteſiſchen Hypotheſe von dem<lb/> ſeelenloſen Organismus ſo ſchwer werden, mit ihr ziem-<lb/> lich weit durchzukommen? Vielleicht befuͤrchtet man,<lb/> wenn den Thieren einiger Antheil an der Denkkraft zu-<lb/> geſtanden wuͤrde, ſo koͤnne ihnen auch der hoͤhere Grad<lb/> derſelben, der den beobachtbaren Verſtand ausmachet,<lb/> nicht ſo ganz abgelaͤugnet werden, wogegen doch die Er-<lb/> fahrung ſo ſtarke Gruͤnde an die Hand giebt. Aber die<lb/> Beſorgniß iſt nicht ſehr gegruͤndet. Bey aller Ver-<lb/> ſchiedenartigkeit der Thiere und der Menſchen, die man<lb/> ſo groß und tief ſich erſtreckend annehmen muß, als es<lb/> die Verſchiedenheit in ihren aͤußern Handlungen nur im-<lb/> <fw place="bottom" type="sig">A a a 5</fw><fw place="bottom" type="catch">mer</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [745/0805]
der menſchlichen Seele ⁊c.
voͤllig außer Zweifel, daß keinem Thiere außer dem
Menſchen von dieſem Reflexionsvermoͤgen etwas zu-
komme? Verſtand und Vernunft, oder ein hoͤheres,
entwickeltes und gewiſſermaßen gereiftes Reflexionsver-
moͤgen beſitzen ſie nicht; aber auch mehr nicht als dieſes
lieget in den Gruͤnden, die man gegen die Vernunft der
Thiere anfuͤhren kann. Muß ihnen daher alles Denken
uͤberhaupt, auch die erſten Stufen deſſelben abgeſpro-
chen werden? Haben ſie nichts von dem Vermoͤgen,
Dinge in der Vorſtellung auf einander zu beziehen? Gar
nichts vom Gewahrnehmen und vom Bewußtſeyn? Man
kann die Wirkungen der thieriſchen Verſchlagenheit, zur
Noth wie Reimarus es gethan hat, aus dem bloßen
Gefuͤhl und der Vorſtellungskraft erklaͤren, wenn man
abrechnet, was die Einbildungskraft derer, die in den
Handlungen der Thiere ſo oft das Menſchliche gewahr
werden, weil ſie ſolche, wie der Verfaſſer der Briefe
uͤber die Thiere und Menſchen, durch die Begriffe
von menſchlichen Handlungen anſehen, hinzuſetzet, ohne
daß man die Apperception und irgend einen Reflexions-
aktus zu Huͤlfe nehme. Sind aber dieſe Erklaͤrungen
deswegen ſehr wahrſcheinlich? und wenn es nur auf
theoretiſche moͤgliche Erklaͤrungsarten ankaͤme, ſollte es
einem Verfechter der Carteſiſchen Hypotheſe von dem
ſeelenloſen Organismus ſo ſchwer werden, mit ihr ziem-
lich weit durchzukommen? Vielleicht befuͤrchtet man,
wenn den Thieren einiger Antheil an der Denkkraft zu-
geſtanden wuͤrde, ſo koͤnne ihnen auch der hoͤhere Grad
derſelben, der den beobachtbaren Verſtand ausmachet,
nicht ſo ganz abgelaͤugnet werden, wogegen doch die Er-
fahrung ſo ſtarke Gruͤnde an die Hand giebt. Aber die
Beſorgniß iſt nicht ſehr gegruͤndet. Bey aller Ver-
ſchiedenartigkeit der Thiere und der Menſchen, die man
ſo groß und tief ſich erſtreckend annehmen muß, als es
die Verſchiedenheit in ihren aͤußern Handlungen nur im-
mer
A a a 5
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |