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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der menschlichen Seele etc.

Wenn die Seele im metaphysischen Verstande für
das einfache, von dem organisirten Körper unterschiedene
Wesen genommen wird, so führet uns die erstere Frage
über das Unterscheidungsmerkmal der Menschenseele auf
zwo andere. Jst die Entwickelung des Menschen eine
Entwickelung jenes unkörperlichen Wesens, oder
bestehet sie allein in der Entwickelung ihres organisirten
Körpers, mit dem sie vereiniget ist? Nimmt sie selbst
in ihrem Jnnern keine Entwickelung, keine Erhöhung
oder Ausbreitung ihrer Vermögen an, so bestehen alle
ihre erworbene Fertigkeiten nur in Geschicklichkeiten des
Gehirns, der Seele in ihren Wirkungen zu Diensten zu
seyn. Was bedarf sie alsdenn für einen Charakter als
menschliche Seele? Jn der That gar keinen. Der
Charakter des Menschen bestehet unter dieser Voraus-
setzung allein in der besondern| Organisation des Gehirns,
oder der Vorstellungsmaschine. Die Polypenseele, wenn
es eine giebt, wie Hr. Unzer nicht meinet, in das ent-
wickelte Gehirn des Menschen versetzet, wird zu einer
Menschenseele werden. Dieß haben schon mehrere und
angesehene neuere Philosophen behauptet.

Oder zweytens. Wenn gleich in ihrem Jnnern
Entwickelungen und Erhöhungen vor sich gehen, so kann
gefraget werden, ob diese auch gewisse perfektible Be-
schaffenheiten in ihrer eigenen besondern Natur voraus-
setzen? Wenn es dabey allein auf den Körper ankommt,
und eine Hundesseele in einem menschlichen Gehirn sich
menschlich entwickelt haben würde, ohne irgend andere
Grundanlagen zu besitzen, als sie in dem Gehirn des
Hundes hat, wie kann, wenn es so wäre, nach dem
Charakter der menschlichen Seele einmal gefraget wer-
den? Alsdenn hat sie für sich nichts Eigenes vor jedem
andern fühlenden Wesen voraus, nichts vor der Seele
des Hundes, des Frosches oder der Auster.

Die
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der menſchlichen Seele ⁊c.

Wenn die Seele im metaphyſiſchen Verſtande fuͤr
das einfache, von dem organiſirten Koͤrper unterſchiedene
Weſen genommen wird, ſo fuͤhret uns die erſtere Frage
uͤber das Unterſcheidungsmerkmal der Menſchenſeele auf
zwo andere. Jſt die Entwickelung des Menſchen eine
Entwickelung jenes unkoͤrperlichen Weſens, oder
beſtehet ſie allein in der Entwickelung ihres organiſirten
Koͤrpers, mit dem ſie vereiniget iſt? Nimmt ſie ſelbſt
in ihrem Jnnern keine Entwickelung, keine Erhoͤhung
oder Ausbreitung ihrer Vermoͤgen an, ſo beſtehen alle
ihre erworbene Fertigkeiten nur in Geſchicklichkeiten des
Gehirns, der Seele in ihren Wirkungen zu Dienſten zu
ſeyn. Was bedarf ſie alsdenn fuͤr einen Charakter als
menſchliche Seele? Jn der That gar keinen. Der
Charakter des Menſchen beſtehet unter dieſer Voraus-
ſetzung allein in der beſondern| Organiſation des Gehirns,
oder der Vorſtellungsmaſchine. Die Polypenſeele, wenn
es eine giebt, wie Hr. Unzer nicht meinet, in das ent-
wickelte Gehirn des Menſchen verſetzet, wird zu einer
Menſchenſeele werden. Dieß haben ſchon mehrere und
angeſehene neuere Philoſophen behauptet.

Oder zweytens. Wenn gleich in ihrem Jnnern
Entwickelungen und Erhoͤhungen vor ſich gehen, ſo kann
gefraget werden, ob dieſe auch gewiſſe perfektible Be-
ſchaffenheiten in ihrer eigenen beſondern Natur voraus-
ſetzen? Wenn es dabey allein auf den Koͤrper ankommt,
und eine Hundesſeele in einem menſchlichen Gehirn ſich
menſchlich entwickelt haben wuͤrde, ohne irgend andere
Grundanlagen zu beſitzen, als ſie in dem Gehirn des
Hundes hat, wie kann, wenn es ſo waͤre, nach dem
Charakter der menſchlichen Seele einmal gefraget wer-
den? Alsdenn hat ſie fuͤr ſich nichts Eigenes vor jedem
andern fuͤhlenden Weſen voraus, nichts vor der Seele
des Hundes, des Froſches oder der Auſter.

Die
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[739/0799] der menſchlichen Seele ⁊c. Wenn die Seele im metaphyſiſchen Verſtande fuͤr das einfache, von dem organiſirten Koͤrper unterſchiedene Weſen genommen wird, ſo fuͤhret uns die erſtere Frage uͤber das Unterſcheidungsmerkmal der Menſchenſeele auf zwo andere. Jſt die Entwickelung des Menſchen eine Entwickelung jenes unkoͤrperlichen Weſens, oder beſtehet ſie allein in der Entwickelung ihres organiſirten Koͤrpers, mit dem ſie vereiniget iſt? Nimmt ſie ſelbſt in ihrem Jnnern keine Entwickelung, keine Erhoͤhung oder Ausbreitung ihrer Vermoͤgen an, ſo beſtehen alle ihre erworbene Fertigkeiten nur in Geſchicklichkeiten des Gehirns, der Seele in ihren Wirkungen zu Dienſten zu ſeyn. Was bedarf ſie alsdenn fuͤr einen Charakter als menſchliche Seele? Jn der That gar keinen. Der Charakter des Menſchen beſtehet unter dieſer Voraus- ſetzung allein in der beſondern| Organiſation des Gehirns, oder der Vorſtellungsmaſchine. Die Polypenſeele, wenn es eine giebt, wie Hr. Unzer nicht meinet, in das ent- wickelte Gehirn des Menſchen verſetzet, wird zu einer Menſchenſeele werden. Dieß haben ſchon mehrere und angeſehene neuere Philoſophen behauptet. Oder zweytens. Wenn gleich in ihrem Jnnern Entwickelungen und Erhoͤhungen vor ſich gehen, ſo kann gefraget werden, ob dieſe auch gewiſſe perfektible Be- ſchaffenheiten in ihrer eigenen beſondern Natur voraus- ſetzen? Wenn es dabey allein auf den Koͤrper ankommt, und eine Hundesſeele in einem menſchlichen Gehirn ſich menſchlich entwickelt haben wuͤrde, ohne irgend andere Grundanlagen zu beſitzen, als ſie in dem Gehirn des Hundes hat, wie kann, wenn es ſo waͤre, nach dem Charakter der menſchlichen Seele einmal gefraget wer- den? Alsdenn hat ſie fuͤr ſich nichts Eigenes vor jedem andern fuͤhlenden Weſen voraus, nichts vor der Seele des Hundes, des Froſches oder der Auſter. Die A a a 2

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 739. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/799>, abgerufen am 24.11.2024.