Unvermerkt verliert man sich hier in eine Hypothese? Wer ist Bürge dafür, daß Fühlen, so wie wir es aus dem entwickelten Zustande der Seele kennen, von der Aeuße- rung der ersten Naturkraft nicht noch weit mehr unter- schieden sey, als Denken und Vorstellen es von dem Füh- len ist? Müßten wir nicht nach der Analogie so schlie- ßen: Da das denkende Wesen bis zu dem Punkt her- untergesetzt, auf dem es als blos fühlend erscheinet, das Vermögen zum Denken, das nächste und eigentliche Vermögen zum Denken nämlich, verlohren hat, so wird sein Vermögen, zum Fühlen nun weiter eingeschränket, auch nicht mehr ein nächstes und eigentliches Vermö- gen zum Fühlen seyn können. Was die Urkraft als- denn wirket, ist freylich eine Aeußerung desselbigen thä- tigen Princips, das in einer höhern Stufe fühlte, und in einer noch höhern Vorstellungen machte und dachte; Aber kann es mit mehrerm Rechte alsdenn noch ein füh- lendes Princip genannt werden, als das blos fühlende Princip ein denkendes heißen kann? Vielleicht viel weniger. Denn der Abstand vom Denken bis zum Fühlen kann wohl viel kleiner seyn, als der vom Fühlen bis zu den ersten Aeußerungen der Urkraft herunter.
Am Ende sehen wir, wo wir sind, nämlich da, wo wir in Anfange waren. Die Grundkraft der Seele kennen wir nicht; weil wir keine Jdee von den ersten ur- sprünglichen Wirkungen ihrer Naturkraft haben. Das Fühlen ist nur die erste Aeußerung, die wir kennen. Wir können sagen, die Grundkraft der Seele sey diesel- bige absolute Realität, welche bis zu einiger Größe ent- wickelt, empfindet und denket. Aber was sie für ein Naturvermögen besitze, zu welchen Arten von Thätigkei- ten sie aufgelegt sey, so lange sie existirt, ob und worinn diese von den Thätigkeiten anderer Elemente sich unter- scheiden, davon wissen wir nichts, als daß ihre Grund- kraft den Keim des Fühlens doch in sich enthalte.
II. Von
I.Band. A a a
der menſchlichen Seele ⁊c.
Unvermerkt verliert man ſich hier in eine Hypotheſe? Wer iſt Buͤrge dafuͤr, daß Fuͤhlen, ſo wie wir es aus dem entwickelten Zuſtande der Seele kennen, von der Aeuße- rung der erſten Naturkraft nicht noch weit mehr unter- ſchieden ſey, als Denken und Vorſtellen es von dem Fuͤh- len iſt? Muͤßten wir nicht nach der Analogie ſo ſchlie- ßen: Da das denkende Weſen bis zu dem Punkt her- untergeſetzt, auf dem es als blos fuͤhlend erſcheinet, das Vermoͤgen zum Denken, das naͤchſte und eigentliche Vermoͤgen zum Denken naͤmlich, verlohren hat, ſo wird ſein Vermoͤgen, zum Fuͤhlen nun weiter eingeſchraͤnket, auch nicht mehr ein naͤchſtes und eigentliches Vermoͤ- gen zum Fuͤhlen ſeyn koͤnnen. Was die Urkraft als- denn wirket, iſt freylich eine Aeußerung deſſelbigen thaͤ- tigen Princips, das in einer hoͤhern Stufe fuͤhlte, und in einer noch hoͤhern Vorſtellungen machte und dachte; Aber kann es mit mehrerm Rechte alsdenn noch ein fuͤh- lendes Princip genannt werden, als das blos fuͤhlende Princip ein denkendes heißen kann? Vielleicht viel weniger. Denn der Abſtand vom Denken bis zum Fuͤhlen kann wohl viel kleiner ſeyn, als der vom Fuͤhlen bis zu den erſten Aeußerungen der Urkraft herunter.
Am Ende ſehen wir, wo wir ſind, naͤmlich da, wo wir in Anfange waren. Die Grundkraft der Seele kennen wir nicht; weil wir keine Jdee von den erſten ur- ſpruͤnglichen Wirkungen ihrer Naturkraft haben. Das Fuͤhlen iſt nur die erſte Aeußerung, die wir kennen. Wir koͤnnen ſagen, die Grundkraft der Seele ſey dieſel- bige abſolute Realitaͤt, welche bis zu einiger Groͤße ent- wickelt, empfindet und denket. Aber was ſie fuͤr ein Naturvermoͤgen beſitze, zu welchen Arten von Thaͤtigkei- ten ſie aufgelegt ſey, ſo lange ſie exiſtirt, ob und worinn dieſe von den Thaͤtigkeiten anderer Elemente ſich unter- ſcheiden, davon wiſſen wir nichts, als daß ihre Grund- kraft den Keim des Fuͤhlens doch in ſich enthalte.
II. Von
I.Band. A a a
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der menſchlichen Seele ⁊c.
Unvermerkt verliert man ſich hier in eine Hypotheſe?
Wer iſt Buͤrge dafuͤr, daß Fuͤhlen, ſo wie wir es aus dem
entwickelten Zuſtande der Seele kennen, von der Aeuße-
rung der erſten Naturkraft nicht noch weit mehr unter-
ſchieden ſey, als Denken und Vorſtellen es von dem Fuͤh-
len iſt? Muͤßten wir nicht nach der Analogie ſo ſchlie-
ßen: Da das denkende Weſen bis zu dem Punkt her-
untergeſetzt, auf dem es als blos fuͤhlend erſcheinet, das
Vermoͤgen zum Denken, das naͤchſte und eigentliche
Vermoͤgen zum Denken naͤmlich, verlohren hat, ſo wird
ſein Vermoͤgen, zum Fuͤhlen nun weiter eingeſchraͤnket,
auch nicht mehr ein naͤchſtes und eigentliches Vermoͤ-
gen zum Fuͤhlen ſeyn koͤnnen. Was die Urkraft als-
denn wirket, iſt freylich eine Aeußerung deſſelbigen thaͤ-
tigen Princips, das in einer hoͤhern Stufe fuͤhlte, und
in einer noch hoͤhern Vorſtellungen machte und dachte;
Aber kann es mit mehrerm Rechte alsdenn noch ein fuͤh-
lendes Princip genannt werden, als das blos fuͤhlende
Princip ein denkendes heißen kann? Vielleicht viel
weniger. Denn der Abſtand vom Denken bis zum
Fuͤhlen kann wohl viel kleiner ſeyn, als der vom Fuͤhlen
bis zu den erſten Aeußerungen der Urkraft herunter.
Am Ende ſehen wir, wo wir ſind, naͤmlich da, wo
wir in Anfange waren. Die Grundkraft der Seele
kennen wir nicht; weil wir keine Jdee von den erſten ur-
ſpruͤnglichen Wirkungen ihrer Naturkraft haben. Das
Fuͤhlen iſt nur die erſte Aeußerung, die wir kennen.
Wir koͤnnen ſagen, die Grundkraft der Seele ſey dieſel-
bige abſolute Realitaͤt, welche bis zu einiger Groͤße ent-
wickelt, empfindet und denket. Aber was ſie fuͤr ein
Naturvermoͤgen beſitze, zu welchen Arten von Thaͤtigkei-
ten ſie aufgelegt ſey, ſo lange ſie exiſtirt, ob und worinn
dieſe von den Thaͤtigkeiten anderer Elemente ſich unter-
ſcheiden, davon wiſſen wir nichts, als daß ihre Grund-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 737. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/797>, abgerufen am 21.11.2024.
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