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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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XI. Versuch. Ueber die Grundkraft

Diese Grundkraft oder Urkraft ist eine Folge ih-
rer Natur, und diese ist unveränderlich, so lange die
Seele als Seele wenigstens vorhanden ist; sie sey in
dem eingewickeltesten Zustande, oder in dem entwickelten.
Jst die Seele ein einfaches unkörperliches Wesen, oder
giebt es in dem ganzen Seelenwesen des Menschen so et-
was Unkörperliches, dem die Seelenvermögen eigent-
lich, als thätige Kraft zukommen, so hat jene Urkraft
so lange ein Vermögen der Seele seyn müssen, als sie
selbst vorhanden gewesen ist, und nur eine Umschaffung
der Allmacht, die sie vernichtet, und ein neues Wesen
wirklich macht, kann ihr solche entziehen. Was war
also diese Grundkraft vor der Empfängniß des Menschen,
und in dem Embryon im Mutterleibe? War auch da-
mals die Seele ein fühlendes, ein denkendes Wesen?
Sie hatte die Anlage es zu werden, und also war der
Grundkeim des Gefühls und der Vernunft vorhanden,
so lange ihre Natur bestand. Da wir wissen, was in
diesem Leben aus ihr wird, so sehen wir, was sie für ein
Ding hat werden können. Sie wird nämlich zu einer
fühlenden, empfindsamen, und denkenden Substanz,
und nichts ist also richtiger, als daß sie von Natur auch
aufgelegt seyn müsse, die nächsten Vermögen wie die
Alten sagten, zu diesen Aktionen, zu bekommen, das ist,
daß sie der Vermögen, solche Wirkungen unmittelbar
zu äußern, ohne noch vorher etwas neues in ihrem Jn-
nern annehmen zu dürfen, in so weit von Natur fähig
gewefen sey, daß sie folche habe erlangen können. Al-
lein hat sie diese nächsten Vermögen jederzeit gehabt?
Zum wenigsten doch das Ueberlegungsvermögen nicht;
Und hat sie nun zu irgend einer Zeit nichts mehr an sich
gehabt, als die Anlage, Empfindungskraft und Ver-
stand durch ihre Entwickelung zu bekommen, so waren
diese Vermögen doch zu der Zeit, da sie noch in der
Natur als bloße Anlagen steckten, nur entfernte Ver-

mögen
XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft

Dieſe Grundkraft oder Urkraft iſt eine Folge ih-
rer Natur, und dieſe iſt unveraͤnderlich, ſo lange die
Seele als Seele wenigſtens vorhanden iſt; ſie ſey in
dem eingewickelteſten Zuſtande, oder in dem entwickelten.
Jſt die Seele ein einfaches unkoͤrperliches Weſen, oder
giebt es in dem ganzen Seelenweſen des Menſchen ſo et-
was Unkoͤrperliches, dem die Seelenvermoͤgen eigent-
lich, als thaͤtige Kraft zukommen, ſo hat jene Urkraft
ſo lange ein Vermoͤgen der Seele ſeyn muͤſſen, als ſie
ſelbſt vorhanden geweſen iſt, und nur eine Umſchaffung
der Allmacht, die ſie vernichtet, und ein neues Weſen
wirklich macht, kann ihr ſolche entziehen. Was war
alſo dieſe Grundkraft vor der Empfaͤngniß des Menſchen,
und in dem Embryon im Mutterleibe? War auch da-
mals die Seele ein fuͤhlendes, ein denkendes Weſen?
Sie hatte die Anlage es zu werden, und alſo war der
Grundkeim des Gefuͤhls und der Vernunft vorhanden,
ſo lange ihre Natur beſtand. Da wir wiſſen, was in
dieſem Leben aus ihr wird, ſo ſehen wir, was ſie fuͤr ein
Ding hat werden koͤnnen. Sie wird naͤmlich zu einer
fuͤhlenden, empfindſamen, und denkenden Subſtanz,
und nichts iſt alſo richtiger, als daß ſie von Natur auch
aufgelegt ſeyn muͤſſe, die naͤchſten Vermoͤgen wie die
Alten ſagten, zu dieſen Aktionen, zu bekommen, das iſt,
daß ſie der Vermoͤgen, ſolche Wirkungen unmittelbar
zu aͤußern, ohne noch vorher etwas neues in ihrem Jn-
nern annehmen zu duͤrfen, in ſo weit von Natur faͤhig
gewefen ſey, daß ſie folche habe erlangen koͤnnen. Al-
lein hat ſie dieſe naͤchſten Vermoͤgen jederzeit gehabt?
Zum wenigſten doch das Ueberlegungsvermoͤgen nicht;
Und hat ſie nun zu irgend einer Zeit nichts mehr an ſich
gehabt, als die Anlage, Empfindungskraft und Ver-
ſtand durch ihre Entwickelung zu bekommen, ſo waren
dieſe Vermoͤgen doch zu der Zeit, da ſie noch in der
Natur als bloße Anlagen ſteckten, nur entfernte Ver-

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[732/0792] XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft Dieſe Grundkraft oder Urkraft iſt eine Folge ih- rer Natur, und dieſe iſt unveraͤnderlich, ſo lange die Seele als Seele wenigſtens vorhanden iſt; ſie ſey in dem eingewickelteſten Zuſtande, oder in dem entwickelten. Jſt die Seele ein einfaches unkoͤrperliches Weſen, oder giebt es in dem ganzen Seelenweſen des Menſchen ſo et- was Unkoͤrperliches, dem die Seelenvermoͤgen eigent- lich, als thaͤtige Kraft zukommen, ſo hat jene Urkraft ſo lange ein Vermoͤgen der Seele ſeyn muͤſſen, als ſie ſelbſt vorhanden geweſen iſt, und nur eine Umſchaffung der Allmacht, die ſie vernichtet, und ein neues Weſen wirklich macht, kann ihr ſolche entziehen. Was war alſo dieſe Grundkraft vor der Empfaͤngniß des Menſchen, und in dem Embryon im Mutterleibe? War auch da- mals die Seele ein fuͤhlendes, ein denkendes Weſen? Sie hatte die Anlage es zu werden, und alſo war der Grundkeim des Gefuͤhls und der Vernunft vorhanden, ſo lange ihre Natur beſtand. Da wir wiſſen, was in dieſem Leben aus ihr wird, ſo ſehen wir, was ſie fuͤr ein Ding hat werden koͤnnen. Sie wird naͤmlich zu einer fuͤhlenden, empfindſamen, und denkenden Subſtanz, und nichts iſt alſo richtiger, als daß ſie von Natur auch aufgelegt ſeyn muͤſſe, die naͤchſten Vermoͤgen wie die Alten ſagten, zu dieſen Aktionen, zu bekommen, das iſt, daß ſie der Vermoͤgen, ſolche Wirkungen unmittelbar zu aͤußern, ohne noch vorher etwas neues in ihrem Jn- nern annehmen zu duͤrfen, in ſo weit von Natur faͤhig gewefen ſey, daß ſie folche habe erlangen koͤnnen. Al- lein hat ſie dieſe naͤchſten Vermoͤgen jederzeit gehabt? Zum wenigſten doch das Ueberlegungsvermoͤgen nicht; Und hat ſie nun zu irgend einer Zeit nichts mehr an ſich gehabt, als die Anlage, Empfindungskraft und Ver- ſtand durch ihre Entwickelung zu bekommen, ſo waren dieſe Vermoͤgen doch zu der Zeit, da ſie noch in der Natur als bloße Anlagen ſteckten, nur entfernte Ver- moͤgen

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 732. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/792>, abgerufen am 27.11.2024.