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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der Vorstellungskraft etc.

Wenn man die obgedachten Beobachtungen über
das Entstehen ähnlicher Gemüthsbewegungen mit ihren
Ursachen nun mit jungen Kindern und mit unerfahrnen
Personen anstellet, so wird dieß letzte völlig bestätiget.
Es läßt sich zwar den Kindern, die eine Musik hören,
ansehen, daß sie überhaupt etwas lebhaft und heiter, und
zu einer allgemeinen Empfindung des Vergnügens ge-
stimmet werden; aber von besondern bestimmten Leiden-
schaften, auch von solchen, denen sie selbst schon unter-
worfen gewesen sind, findet man keine Spur in ihren
Mienen, wie bey dem erwachsenen gefühlvollen Liebha-
ber. Es mag ein unangenehmer Ton für das Kind
seyn, wenn es jemand im Wasser um Rettung schreien
höret, aber es ist auch nichts mehr, nur ein widriger
Ton, der die Seele vielleicht etwas unruhig macht, aber
es zeiget sich keine weitere Spur von einem bestimmten
Mitgefühl mit der Verzweiflung des Hülflosen.

Der Schluß aus diesen Bemerkungen ist also folgen-
der: "Die physische Wirkung, welche durch die äu-
"ßere Empfindung einer fremden Gemüthsbewegung
"verursachet wird, hat in einigen Fällen etwas ähnli-
"ches mit ihrer ersten Ursache, und diese Aehnlichkeit
"ist Eins von den Verbindungsmitteln der fremden
"Empfindung mit der eigenen, die das Mitgefühl aus-
"macht. Aber diese Aehnlichkeit erstreckt sich nicht wei-
"ter als auf das Allgemeine; ist wenigstens nicht weiter,
"als in Hinsicht dieses Allgemeinen bemerkbar. Daher
"ist jedes durch eine physische Einwirkung erzeugte Mit-
"gefühl nur eine unbestimmte Empfindung. Soll die-
"ses einer bestimmten Art von Empfindung ähnlicher
"werden, so muß die Einbildungskraft hinzu kommen,
"die entweder schon verbundene Jdeen von Empfindnis-
"sen, Gemüthsbewegungen und Handlungen nach ihrer
"Aehnlichkeit wieder erwecket, oder auch eine neue Ver-
"bindung von ihnen gegenwärtig zu Stande bringt, und

"zumal
der Vorſtellungskraft ⁊c.

Wenn man die obgedachten Beobachtungen uͤber
das Entſtehen aͤhnlicher Gemuͤthsbewegungen mit ihren
Urſachen nun mit jungen Kindern und mit unerfahrnen
Perſonen anſtellet, ſo wird dieß letzte voͤllig beſtaͤtiget.
Es laͤßt ſich zwar den Kindern, die eine Muſik hoͤren,
anſehen, daß ſie uͤberhaupt etwas lebhaft und heiter, und
zu einer allgemeinen Empfindung des Vergnuͤgens ge-
ſtimmet werden; aber von beſondern beſtimmten Leiden-
ſchaften, auch von ſolchen, denen ſie ſelbſt ſchon unter-
worfen geweſen ſind, findet man keine Spur in ihren
Mienen, wie bey dem erwachſenen gefuͤhlvollen Liebha-
ber. Es mag ein unangenehmer Ton fuͤr das Kind
ſeyn, wenn es jemand im Waſſer um Rettung ſchreien
hoͤret, aber es iſt auch nichts mehr, nur ein widriger
Ton, der die Seele vielleicht etwas unruhig macht, aber
es zeiget ſich keine weitere Spur von einem beſtimmten
Mitgefuͤhl mit der Verzweiflung des Huͤlfloſen.

Der Schluß aus dieſen Bemerkungen iſt alſo folgen-
der: „Die phyſiſche Wirkung, welche durch die aͤu-
„ßere Empfindung einer fremden Gemuͤthsbewegung
„verurſachet wird, hat in einigen Faͤllen etwas aͤhnli-
„ches mit ihrer erſten Urſache, und dieſe Aehnlichkeit
„iſt Eins von den Verbindungsmitteln der fremden
„Empfindung mit der eigenen, die das Mitgefuͤhl aus-
„macht. Aber dieſe Aehnlichkeit erſtreckt ſich nicht wei-
„ter als auf das Allgemeine; iſt wenigſtens nicht weiter,
„als in Hinſicht dieſes Allgemeinen bemerkbar. Daher
„iſt jedes durch eine phyſiſche Einwirkung erzeugte Mit-
„gefuͤhl nur eine unbeſtimmte Empfindung. Soll die-
„ſes einer beſtimmten Art von Empfindung aͤhnlicher
„werden, ſo muß die Einbildungskraft hinzu kommen,
„die entweder ſchon verbundene Jdeen von Empfindniſ-
„ſen, Gemuͤthsbewegungen und Handlungen nach ihrer
„Aehnlichkeit wieder erwecket, oder auch eine neue Ver-
„bindung von ihnen gegenwaͤrtig zu Stande bringt, und

„zumal
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[683/0743] der Vorſtellungskraft ⁊c. Wenn man die obgedachten Beobachtungen uͤber das Entſtehen aͤhnlicher Gemuͤthsbewegungen mit ihren Urſachen nun mit jungen Kindern und mit unerfahrnen Perſonen anſtellet, ſo wird dieß letzte voͤllig beſtaͤtiget. Es laͤßt ſich zwar den Kindern, die eine Muſik hoͤren, anſehen, daß ſie uͤberhaupt etwas lebhaft und heiter, und zu einer allgemeinen Empfindung des Vergnuͤgens ge- ſtimmet werden; aber von beſondern beſtimmten Leiden- ſchaften, auch von ſolchen, denen ſie ſelbſt ſchon unter- worfen geweſen ſind, findet man keine Spur in ihren Mienen, wie bey dem erwachſenen gefuͤhlvollen Liebha- ber. Es mag ein unangenehmer Ton fuͤr das Kind ſeyn, wenn es jemand im Waſſer um Rettung ſchreien hoͤret, aber es iſt auch nichts mehr, nur ein widriger Ton, der die Seele vielleicht etwas unruhig macht, aber es zeiget ſich keine weitere Spur von einem beſtimmten Mitgefuͤhl mit der Verzweiflung des Huͤlfloſen. Der Schluß aus dieſen Bemerkungen iſt alſo folgen- der: „Die phyſiſche Wirkung, welche durch die aͤu- „ßere Empfindung einer fremden Gemuͤthsbewegung „verurſachet wird, hat in einigen Faͤllen etwas aͤhnli- „ches mit ihrer erſten Urſache, und dieſe Aehnlichkeit „iſt Eins von den Verbindungsmitteln der fremden „Empfindung mit der eigenen, die das Mitgefuͤhl aus- „macht. Aber dieſe Aehnlichkeit erſtreckt ſich nicht wei- „ter als auf das Allgemeine; iſt wenigſtens nicht weiter, „als in Hinſicht dieſes Allgemeinen bemerkbar. Daher „iſt jedes durch eine phyſiſche Einwirkung erzeugte Mit- „gefuͤhl nur eine unbeſtimmte Empfindung. Soll die- „ſes einer beſtimmten Art von Empfindung aͤhnlicher „werden, ſo muß die Einbildungskraft hinzu kommen, „die entweder ſchon verbundene Jdeen von Empfindniſ- „ſen, Gemuͤthsbewegungen und Handlungen nach ihrer „Aehnlichkeit wieder erwecket, oder auch eine neue Ver- „bindung von ihnen gegenwaͤrtig zu Stande bringt, und „zumal

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 683. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/743>, abgerufen am 24.11.2024.