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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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X. Versuch. Ueber die Beziehung

Aber dieß ist noch nicht alles, was bey dem Mitge-
fühl vorgeht. Wir sehen einen Menschen, der eine Last
träget, mit großer Anstrengung der Muskeln sich lang-
sam bewegen, und hören ihn stöhnen. Laßt diesen An-
blick und diesen Ton unangenehme Empfindungen des
Gesichts und des Gehörs hervorbringen, wie entstehen
denn daraus die übrigen Mitempfindungen auch in dem
innern körperlichen Gefühl? Wir leiden noch mehr mit;
es wird uns schwer in den Gliedern, es drückt uns auf
den Schultern, wir fühlen Anstrengungen in unsern
Gliedern, zum mindesten schwache Anfänge davon, mehr
oder minder, je nachdem unser Anschaun lebhafter oder
matter ist, und wir mehr oder minder uns der Empfin-
dung überlassen. Eine unangenehme Empfindung eini-
ger äußern Sinne erreget eine ähnliche nicht nur in der
Seele, sondern auch in den übrigen Sinnen, und be-
sonders in dem Gefühl. Kann dieser Uebergang Statt
finden, wenn nicht eine gleiche Affektion schon ehedem
vorhanden gewesen ist, die durch die Einbildungskraft
wieder erwecket wird, indem ein Theil von ihr, näm-
lich der in den Empfindungen verschiedener Sinne ge-
meinschaftliche, von neuen gegenwärtig wird?

Ein Blinder weiß nicht, was ein widriger Anblick
ist; er hat widrige Empfindungen des Gehörs und wi-
drige Gefühle; aber diese erregen keine ähnliche widrige
Gesichtsempfindungen oder Einbildungen von ihnen,
als nur bey dem Sehenden. Eine ähnliche Anmerkung
läßt sich über taube Menschen machen, die am Ende da-
hin führt, daß wenn die Empfindung eines Sinnes
eine ihr ähnliche Empfindung eines andern Sinnes er-
reget, so setzet dieß voraus, daß die Empfindungen des
letzten Sinns schon vorher da gewesen, und mit den er-
stern auch schon vereiniget sind, oder etwann jetzo durch
die selbstthätige Associationskraft vereiniget werden.

Wenn
X. Verſuch. Ueber die Beziehung

Aber dieß iſt noch nicht alles, was bey dem Mitge-
fuͤhl vorgeht. Wir ſehen einen Menſchen, der eine Laſt
traͤget, mit großer Anſtrengung der Muskeln ſich lang-
ſam bewegen, und hoͤren ihn ſtoͤhnen. Laßt dieſen An-
blick und dieſen Ton unangenehme Empfindungen des
Geſichts und des Gehoͤrs hervorbringen, wie entſtehen
denn daraus die uͤbrigen Mitempfindungen auch in dem
innern koͤrperlichen Gefuͤhl? Wir leiden noch mehr mit;
es wird uns ſchwer in den Gliedern, es druͤckt uns auf
den Schultern, wir fuͤhlen Anſtrengungen in unſern
Gliedern, zum mindeſten ſchwache Anfaͤnge davon, mehr
oder minder, je nachdem unſer Anſchaun lebhafter oder
matter iſt, und wir mehr oder minder uns der Empfin-
dung uͤberlaſſen. Eine unangenehme Empfindung eini-
ger aͤußern Sinne erreget eine aͤhnliche nicht nur in der
Seele, ſondern auch in den uͤbrigen Sinnen, und be-
ſonders in dem Gefuͤhl. Kann dieſer Uebergang Statt
finden, wenn nicht eine gleiche Affektion ſchon ehedem
vorhanden geweſen iſt, die durch die Einbildungskraft
wieder erwecket wird, indem ein Theil von ihr, naͤm-
lich der in den Empfindungen verſchiedener Sinne ge-
meinſchaftliche, von neuen gegenwaͤrtig wird?

Ein Blinder weiß nicht, was ein widriger Anblick
iſt; er hat widrige Empfindungen des Gehoͤrs und wi-
drige Gefuͤhle; aber dieſe erregen keine aͤhnliche widrige
Geſichtsempfindungen oder Einbildungen von ihnen,
als nur bey dem Sehenden. Eine aͤhnliche Anmerkung
laͤßt ſich uͤber taube Menſchen machen, die am Ende da-
hin fuͤhrt, daß wenn die Empfindung eines Sinnes
eine ihr aͤhnliche Empfindung eines andern Sinnes er-
reget, ſo ſetzet dieß voraus, daß die Empfindungen des
letzten Sinns ſchon vorher da geweſen, und mit den er-
ſtern auch ſchon vereiniget ſind, oder etwann jetzo durch
die ſelbſtthaͤtige Aſſociationskraft vereiniget werden.

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[682/0742] X. Verſuch. Ueber die Beziehung Aber dieß iſt noch nicht alles, was bey dem Mitge- fuͤhl vorgeht. Wir ſehen einen Menſchen, der eine Laſt traͤget, mit großer Anſtrengung der Muskeln ſich lang- ſam bewegen, und hoͤren ihn ſtoͤhnen. Laßt dieſen An- blick und dieſen Ton unangenehme Empfindungen des Geſichts und des Gehoͤrs hervorbringen, wie entſtehen denn daraus die uͤbrigen Mitempfindungen auch in dem innern koͤrperlichen Gefuͤhl? Wir leiden noch mehr mit; es wird uns ſchwer in den Gliedern, es druͤckt uns auf den Schultern, wir fuͤhlen Anſtrengungen in unſern Gliedern, zum mindeſten ſchwache Anfaͤnge davon, mehr oder minder, je nachdem unſer Anſchaun lebhafter oder matter iſt, und wir mehr oder minder uns der Empfin- dung uͤberlaſſen. Eine unangenehme Empfindung eini- ger aͤußern Sinne erreget eine aͤhnliche nicht nur in der Seele, ſondern auch in den uͤbrigen Sinnen, und be- ſonders in dem Gefuͤhl. Kann dieſer Uebergang Statt finden, wenn nicht eine gleiche Affektion ſchon ehedem vorhanden geweſen iſt, die durch die Einbildungskraft wieder erwecket wird, indem ein Theil von ihr, naͤm- lich der in den Empfindungen verſchiedener Sinne ge- meinſchaftliche, von neuen gegenwaͤrtig wird? Ein Blinder weiß nicht, was ein widriger Anblick iſt; er hat widrige Empfindungen des Gehoͤrs und wi- drige Gefuͤhle; aber dieſe erregen keine aͤhnliche widrige Geſichtsempfindungen oder Einbildungen von ihnen, als nur bey dem Sehenden. Eine aͤhnliche Anmerkung laͤßt ſich uͤber taube Menſchen machen, die am Ende da- hin fuͤhrt, daß wenn die Empfindung eines Sinnes eine ihr aͤhnliche Empfindung eines andern Sinnes er- reget, ſo ſetzet dieß voraus, daß die Empfindungen des letzten Sinns ſchon vorher da geweſen, und mit den er- ſtern auch ſchon vereiniget ſind, oder etwann jetzo durch die ſelbſtthaͤtige Aſſociationskraft vereiniget werden. Wenn

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 682. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/742>, abgerufen am 22.11.2024.