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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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X. Versuch. Ueber die Beziehung
Jnnern der Seele mehr oder weniger von demjenigen
vorhanden ist, was entweder für sich schon ein Bestand-
theil der ganzen Modifikation ist, die sie thätig bewir-
ken oder leidend annehmen soll, oder doch durch eine Ab-
sonderung, Ausscheidung, oder Verbindung und Mi-
schung darzu gemacht werden kann. Dieß ist der Grund
der oft augenblicklich, und zuweilen unvermuthet entste-
henden Fertigkeiten, die wie durch einen Sprung hervor-
getrieben zu werden scheinen.

Diese Stärke der Fertigkeit bestehet zuweilen mehr
in Lebhaftigkeit, in der Größe des ersten Ansatzes,
ohne daß ein Nachdruck von merklicher Größe erfolge;
zuweilen ist mehr Stärke im Aushalten, als im ersten
Ansetzen da. Die lebhaften Genies, und die mehr dieß
als tiefe Genies sind, wirken mit ihrer ganzen Stärke
auf einmal, in einem Nu. Jhre Gedanken sind Blicke,
und der Ausdruck ein Wurf. Sind es wirklich große
Genies, so sind jene Blitze, die aber schnell vorüber ge-
hen. Jn den Fertigkeiten der höhern Verstandeskräfte
ist es selten diese Dimension, worinn sie am größten sind,
sondern ihre größte Kraft bestehet in dem Anhalten und
Durchsetzen.

Diese Abänderungen lassen sich daraus erklären, daß
die Menge der einfachen Theile, welche zusammen die
ganze Fertigkeit ausmachen, in einem Fall mehr von
allen fremden Vorstellungen anderer Aktionen abgeson-
dert, in dem andern aber mit mehreren dergleichen ver-
bunden sind. Jst die ganze Fertigkeit in der Seele von
fremden Vorstellungen abgesondert, so geht jene auf ein-
mal ganz hervor, und setzet heftig an, verzehret sich aber
bald, wenn die Vorstellung von der Aktion in die volle
Empfindung hinüber ist. Jst dagegen die Fertigkeit
mit| vielen andern Vorstellungen associirt, so liegen neben
ihr auch Anfätze zu mehreren Handlungen, welche die
Kraft der Seele auf sich ziehen, und es verhindern, daß

sie

X. Verſuch. Ueber die Beziehung
Jnnern der Seele mehr oder weniger von demjenigen
vorhanden iſt, was entweder fuͤr ſich ſchon ein Beſtand-
theil der ganzen Modifikation iſt, die ſie thaͤtig bewir-
ken oder leidend annehmen ſoll, oder doch durch eine Ab-
ſonderung, Ausſcheidung, oder Verbindung und Mi-
ſchung darzu gemacht werden kann. Dieß iſt der Grund
der oft augenblicklich, und zuweilen unvermuthet entſte-
henden Fertigkeiten, die wie durch einen Sprung hervor-
getrieben zu werden ſcheinen.

Dieſe Staͤrke der Fertigkeit beſtehet zuweilen mehr
in Lebhaftigkeit, in der Groͤße des erſten Anſatzes,
ohne daß ein Nachdruck von merklicher Groͤße erfolge;
zuweilen iſt mehr Staͤrke im Aushalten, als im erſten
Anſetzen da. Die lebhaften Genies, und die mehr dieß
als tiefe Genies ſind, wirken mit ihrer ganzen Staͤrke
auf einmal, in einem Nu. Jhre Gedanken ſind Blicke,
und der Ausdruck ein Wurf. Sind es wirklich große
Genies, ſo ſind jene Blitze, die aber ſchnell voruͤber ge-
hen. Jn den Fertigkeiten der hoͤhern Verſtandeskraͤfte
iſt es ſelten dieſe Dimenſion, worinn ſie am groͤßten ſind,
ſondern ihre groͤßte Kraft beſtehet in dem Anhalten und
Durchſetzen.

Dieſe Abaͤnderungen laſſen ſich daraus erklaͤren, daß
die Menge der einfachen Theile, welche zuſammen die
ganze Fertigkeit ausmachen, in einem Fall mehr von
allen fremden Vorſtellungen anderer Aktionen abgeſon-
dert, in dem andern aber mit mehreren dergleichen ver-
bunden ſind. Jſt die ganze Fertigkeit in der Seele von
fremden Vorſtellungen abgeſondert, ſo geht jene auf ein-
mal ganz hervor, und ſetzet heftig an, verzehret ſich aber
bald, wenn die Vorſtellung von der Aktion in die volle
Empfindung hinuͤber iſt. Jſt dagegen die Fertigkeit
mit| vielen andern Vorſtellungen aſſociirt, ſo liegen neben
ihr auch Anfaͤtze zu mehreren Handlungen, welche die
Kraft der Seele auf ſich ziehen, und es verhindern, daß

ſie
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[662/0722] X. Verſuch. Ueber die Beziehung Jnnern der Seele mehr oder weniger von demjenigen vorhanden iſt, was entweder fuͤr ſich ſchon ein Beſtand- theil der ganzen Modifikation iſt, die ſie thaͤtig bewir- ken oder leidend annehmen ſoll, oder doch durch eine Ab- ſonderung, Ausſcheidung, oder Verbindung und Mi- ſchung darzu gemacht werden kann. Dieß iſt der Grund der oft augenblicklich, und zuweilen unvermuthet entſte- henden Fertigkeiten, die wie durch einen Sprung hervor- getrieben zu werden ſcheinen. Dieſe Staͤrke der Fertigkeit beſtehet zuweilen mehr in Lebhaftigkeit, in der Groͤße des erſten Anſatzes, ohne daß ein Nachdruck von merklicher Groͤße erfolge; zuweilen iſt mehr Staͤrke im Aushalten, als im erſten Anſetzen da. Die lebhaften Genies, und die mehr dieß als tiefe Genies ſind, wirken mit ihrer ganzen Staͤrke auf einmal, in einem Nu. Jhre Gedanken ſind Blicke, und der Ausdruck ein Wurf. Sind es wirklich große Genies, ſo ſind jene Blitze, die aber ſchnell voruͤber ge- hen. Jn den Fertigkeiten der hoͤhern Verſtandeskraͤfte iſt es ſelten dieſe Dimenſion, worinn ſie am groͤßten ſind, ſondern ihre groͤßte Kraft beſtehet in dem Anhalten und Durchſetzen. Dieſe Abaͤnderungen laſſen ſich daraus erklaͤren, daß die Menge der einfachen Theile, welche zuſammen die ganze Fertigkeit ausmachen, in einem Fall mehr von allen fremden Vorſtellungen anderer Aktionen abgeſon- dert, in dem andern aber mit mehreren dergleichen ver- bunden ſind. Jſt die ganze Fertigkeit in der Seele von fremden Vorſtellungen abgeſondert, ſo geht jene auf ein- mal ganz hervor, und ſetzet heftig an, verzehret ſich aber bald, wenn die Vorſtellung von der Aktion in die volle Empfindung hinuͤber iſt. Jſt dagegen die Fertigkeit mit| vielen andern Vorſtellungen aſſociirt, ſo liegen neben ihr auch Anfaͤtze zu mehreren Handlungen, welche die Kraft der Seele auf ſich ziehen, und es verhindern, daß ſie

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 662. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/722>, abgerufen am 22.11.2024.