Jst von der thätigen Kraft der Seele überhaupt die Rede, und unterscheidet man die Vorstellungen von Empfindungen, so kann diese Behauptung mit den Be- obachtungen nicht bestehen. Denn ehe wir Vorstellun- gen von den Aktionen des Vorstellens und des Denkens erhalten können, müssen wir mit der vorstellenden Kraft gewirket haben, und also von dieser Seite wirksam ge- wesen seyn. Aber wenn es nur auf die Willensäuße- rungen eingeschränket wird, so kann allerdings die Frage aufgeworfen werden: "ob es das Gefühl unmittelbar "sey, was den Willen zur Wirksamkeit bringe? oder ob "noch zwischen dem Gefühl und zwischen der neuen Kraft- "äußerung, eine Wirkung der vorstellenden Kraft ein- "treten, und sich eine Vorstellung von dem Objekt der "Aktion gemacht haben müsse?" Ob nämlich das Gefühl aufgehöret haben müsse, Gefühl zu seyn, und in eine Em- pfindungsvorstellung von der Sache übergegangen sey? Es versteht sich, daß wir keine Vorstellung von der Aktion selbst haben können, ehe sie nicht schon vorher verrichtet ist; aber ob wir nicht eine Vorstellung von der die Kraft reizen- den Empfindung haben müssen, ehe diese letztere eine wirk- liche Reizung in der Kraft hervorbringet, das ist nicht so offenbar. Jndessen ist es, das mindeste zu sagen, sehr wahrscheinlich, daß es dergleichen Dazwischenkunft der vorstellenden Kraft bey den ersten Willensäußerungen nicht bedürfe. Die Erfahrung lehret, daß es nicht Jdeen und Gedanken, sondern Empfindungen sind, die uns reizen und in Bewegung setzen. Die Jdeen enthal- ten nur in so ferne die unmittelbaren Reizungen, als sie selbst völliger bestimmt, und den Empfindungen ähnlich sind. Da ohnedieß die Vorstellungen und ihre Empfin- dungen nur an Graden unterschieden sind, so kann es nicht zweifelhaft seyn, daß jede bewegende Kraft, welche den Vorstellungen beywohnet, nicht auch den Empfin- dungen in einer noch reichlichern Maaße zukommen sollte.
Die
R r 4
der Vorſtellungskraft ⁊c.
Jſt von der thaͤtigen Kraft der Seele uͤberhaupt die Rede, und unterſcheidet man die Vorſtellungen von Empfindungen, ſo kann dieſe Behauptung mit den Be- obachtungen nicht beſtehen. Denn ehe wir Vorſtellun- gen von den Aktionen des Vorſtellens und des Denkens erhalten koͤnnen, muͤſſen wir mit der vorſtellenden Kraft gewirket haben, und alſo von dieſer Seite wirkſam ge- weſen ſeyn. Aber wenn es nur auf die Willensaͤuße- rungen eingeſchraͤnket wird, ſo kann allerdings die Frage aufgeworfen werden: „ob es das Gefuͤhl unmittelbar „ſey, was den Willen zur Wirkſamkeit bringe? oder ob „noch zwiſchen dem Gefuͤhl und zwiſchen der neuen Kraft- „aͤußerung, eine Wirkung der vorſtellenden Kraft ein- „treten, und ſich eine Vorſtellung von dem Objekt der „Aktion gemacht haben muͤſſe?‟ Ob naͤmlich das Gefuͤhl aufgehoͤret haben muͤſſe, Gefuͤhl zu ſeyn, und in eine Em- pfindungsvorſtellung von der Sache uͤbergegangen ſey? Es verſteht ſich, daß wir keine Vorſtellung von der Aktion ſelbſt haben koͤnnen, ehe ſie nicht ſchon vorher verrichtet iſt; aber ob wir nicht eine Vorſtellung von der die Kraft reizen- den Empfindung haben muͤſſen, ehe dieſe letztere eine wirk- liche Reizung in der Kraft hervorbringet, das iſt nicht ſo offenbar. Jndeſſen iſt es, das mindeſte zu ſagen, ſehr wahrſcheinlich, daß es dergleichen Dazwiſchenkunft der vorſtellenden Kraft bey den erſten Willensaͤußerungen nicht beduͤrfe. Die Erfahrung lehret, daß es nicht Jdeen und Gedanken, ſondern Empfindungen ſind, die uns reizen und in Bewegung ſetzen. Die Jdeen enthal- ten nur in ſo ferne die unmittelbaren Reizungen, als ſie ſelbſt voͤlliger beſtimmt, und den Empfindungen aͤhnlich ſind. Da ohnedieß die Vorſtellungen und ihre Empfin- dungen nur an Graden unterſchieden ſind, ſo kann es nicht zweifelhaft ſeyn, daß jede bewegende Kraft, welche den Vorſtellungen beywohnet, nicht auch den Empfin- dungen in einer noch reichlichern Maaße zukommen ſollte.
Die
R r 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0691"n="631"/><fwplace="top"type="header">der Vorſtellungskraft ⁊c.</fw><lb/><p>Jſt von der <hirendition="#fr">thaͤtigen Kraft</hi> der Seele uͤberhaupt<lb/>
die Rede, und unterſcheidet man die Vorſtellungen von<lb/>
Empfindungen, ſo kann dieſe Behauptung mit den Be-<lb/>
obachtungen nicht beſtehen. Denn ehe wir Vorſtellun-<lb/>
gen von den Aktionen des Vorſtellens und des Denkens<lb/>
erhalten koͤnnen, muͤſſen wir mit der vorſtellenden Kraft<lb/>
gewirket haben, und alſo von dieſer Seite wirkſam ge-<lb/>
weſen ſeyn. Aber wenn es nur auf die Willensaͤuße-<lb/>
rungen eingeſchraͤnket wird, ſo kann allerdings die Frage<lb/>
aufgeworfen werden: „ob es das <hirendition="#fr">Gefuͤhl unmittelbar</hi><lb/>„ſey, was den Willen zur Wirkſamkeit bringe? oder ob<lb/>„noch zwiſchen dem Gefuͤhl und zwiſchen der neuen Kraft-<lb/>„aͤußerung, eine Wirkung der vorſtellenden Kraft ein-<lb/>„treten, und ſich eine Vorſtellung von dem Objekt der<lb/>„Aktion gemacht haben muͤſſe?‟ Ob naͤmlich das Gefuͤhl<lb/>
aufgehoͤret haben muͤſſe, Gefuͤhl zu ſeyn, und in eine Em-<lb/>
pfindungsvorſtellung von der Sache uͤbergegangen ſey?<lb/>
Es verſteht ſich, daß wir keine Vorſtellung von der Aktion<lb/>ſelbſt haben koͤnnen, ehe ſie nicht ſchon vorher verrichtet iſt;<lb/>
aber ob wir nicht eine Vorſtellung von der die Kraft reizen-<lb/>
den Empfindung haben muͤſſen, ehe dieſe letztere eine wirk-<lb/>
liche Reizung in der Kraft hervorbringet, das iſt nicht ſo<lb/>
offenbar. Jndeſſen iſt es, das mindeſte zu ſagen, ſehr<lb/>
wahrſcheinlich, daß es dergleichen Dazwiſchenkunft der<lb/>
vorſtellenden Kraft bey den erſten Willensaͤußerungen<lb/>
nicht beduͤrfe. Die Erfahrung lehret, daß es nicht<lb/>
Jdeen und Gedanken, ſondern Empfindungen ſind, die<lb/>
uns reizen und in Bewegung ſetzen. Die Jdeen enthal-<lb/>
ten nur in ſo ferne die unmittelbaren Reizungen, als ſie<lb/>ſelbſt voͤlliger beſtimmt, und den Empfindungen aͤhnlich<lb/>ſind. Da ohnedieß die Vorſtellungen und ihre Empfin-<lb/>
dungen nur an Graden unterſchieden ſind, ſo kann es<lb/>
nicht zweifelhaft ſeyn, daß jede bewegende Kraft, welche<lb/>
den Vorſtellungen beywohnet, nicht auch den Empfin-<lb/>
dungen in einer noch reichlichern Maaße zukommen ſollte.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">R r 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">Die</fw><lb/></div></div></div></body></text></TEI>
[631/0691]
der Vorſtellungskraft ⁊c.
Jſt von der thaͤtigen Kraft der Seele uͤberhaupt
die Rede, und unterſcheidet man die Vorſtellungen von
Empfindungen, ſo kann dieſe Behauptung mit den Be-
obachtungen nicht beſtehen. Denn ehe wir Vorſtellun-
gen von den Aktionen des Vorſtellens und des Denkens
erhalten koͤnnen, muͤſſen wir mit der vorſtellenden Kraft
gewirket haben, und alſo von dieſer Seite wirkſam ge-
weſen ſeyn. Aber wenn es nur auf die Willensaͤuße-
rungen eingeſchraͤnket wird, ſo kann allerdings die Frage
aufgeworfen werden: „ob es das Gefuͤhl unmittelbar
„ſey, was den Willen zur Wirkſamkeit bringe? oder ob
„noch zwiſchen dem Gefuͤhl und zwiſchen der neuen Kraft-
„aͤußerung, eine Wirkung der vorſtellenden Kraft ein-
„treten, und ſich eine Vorſtellung von dem Objekt der
„Aktion gemacht haben muͤſſe?‟ Ob naͤmlich das Gefuͤhl
aufgehoͤret haben muͤſſe, Gefuͤhl zu ſeyn, und in eine Em-
pfindungsvorſtellung von der Sache uͤbergegangen ſey?
Es verſteht ſich, daß wir keine Vorſtellung von der Aktion
ſelbſt haben koͤnnen, ehe ſie nicht ſchon vorher verrichtet iſt;
aber ob wir nicht eine Vorſtellung von der die Kraft reizen-
den Empfindung haben muͤſſen, ehe dieſe letztere eine wirk-
liche Reizung in der Kraft hervorbringet, das iſt nicht ſo
offenbar. Jndeſſen iſt es, das mindeſte zu ſagen, ſehr
wahrſcheinlich, daß es dergleichen Dazwiſchenkunft der
vorſtellenden Kraft bey den erſten Willensaͤußerungen
nicht beduͤrfe. Die Erfahrung lehret, daß es nicht
Jdeen und Gedanken, ſondern Empfindungen ſind, die
uns reizen und in Bewegung ſetzen. Die Jdeen enthal-
ten nur in ſo ferne die unmittelbaren Reizungen, als ſie
ſelbſt voͤlliger beſtimmt, und den Empfindungen aͤhnlich
ſind. Da ohnedieß die Vorſtellungen und ihre Empfin-
dungen nur an Graden unterſchieden ſind, ſo kann es
nicht zweifelhaft ſeyn, daß jede bewegende Kraft, welche
den Vorſtellungen beywohnet, nicht auch den Empfin-
dungen in einer noch reichlichern Maaße zukommen ſollte.
Die
R r 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 631. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/691>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.