Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der Vorstellungen.
Jede Veränderung in der Seele, jede Bewegung, jeder
Eindruck auf sie, jede Empfindung, jeder Trieb, jede
Thätigkeit in ihr, führet den Verstand, der scharf genug
ist, den Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen
durchzusehen, auf andere Sachen hin, so wohl auf die
vorhergehende, von welchen sie als Wirkung abhängt, als
auch auf die nachfolgende, welche wiederum als Wir-
kung von ihr abhängen. Hiemit nun den Grundsaz ver-
bunden, daß alles in der würklichen Welt in einer durch-
gängigen
Verbindung mit einander stehe, und also
auch jedwede Modifikation in der Seele eine völlig be-
stimmte Beziehung auf jede Veränderung in jedem Theil
des ganzen Systems der wirklichen Dinge habe; so sind
wir mit einem mal bey dem Princip der Leibnitzischen und
Wolfischen Seelenlehre, daß eine jede Veränderung
in der Seele das Gesammte Ganze der Welt vor-
stelle;
und dem unendlichen Verstande, der jede Ursa-
che in ihrer Wirkung, und jede Wirkung in ihrer Ursa-
che, erkennt, alles dasjenige wie in einem Spiegel vor-
halte, was auf sie, als Ursache oder als Wirkung, mit-
telbar oder unmittelbar, eine Beziehung hat.

Von dieser Seite betrachtet sind auch die Freude,
der Hunger, das Verlangen, die Furcht und alle Ge-
müthsbewegungen und Begierden und Leidenschaften,
Vorstellungen, wie es die Jdeen von der Sonne, von
einem Pferde, von einem Menschen, sind. Wenn es
auf nichts weiter ankommt, als auf den Redegebrauch;
so will ich mich gerne zu diesem bequemen. Wer ver-
diente mehr Gesetzgeber in der philosophischen Sprache zu
seyn, als Leibnitz? Aber was wird denn nun dadurch
aufgekläret, wenn wir alle Arten der Seelen-Verände-
rungen Vorstellungen heißen, und also das Vorstel-
lungen machen
als die Grundthätigkeit zu allen übri-
gen Wirkungsarten ansehen? und, was hier noch näher
hergehöret, wo ist das Charakteristische solcher Beschaf-

fenhei-
A 5

der Vorſtellungen.
Jede Veraͤnderung in der Seele, jede Bewegung, jeder
Eindruck auf ſie, jede Empfindung, jeder Trieb, jede
Thaͤtigkeit in ihr, fuͤhret den Verſtand, der ſcharf genug
iſt, den Zuſammenhang von Urſachen und Wirkungen
durchzuſehen, auf andere Sachen hin, ſo wohl auf die
vorhergehende, von welchen ſie als Wirkung abhaͤngt, als
auch auf die nachfolgende, welche wiederum als Wir-
kung von ihr abhaͤngen. Hiemit nun den Grundſaz ver-
bunden, daß alles in der wuͤrklichen Welt in einer durch-
gaͤngigen
Verbindung mit einander ſtehe, und alſo
auch jedwede Modifikation in der Seele eine voͤllig be-
ſtimmte Beziehung auf jede Veraͤnderung in jedem Theil
des ganzen Syſtems der wirklichen Dinge habe; ſo ſind
wir mit einem mal bey dem Princip der Leibnitziſchen und
Wolfiſchen Seelenlehre, daß eine jede Veraͤnderung
in der Seele das Geſammte Ganze der Welt vor-
ſtelle;
und dem unendlichen Verſtande, der jede Urſa-
che in ihrer Wirkung, und jede Wirkung in ihrer Urſa-
che, erkennt, alles dasjenige wie in einem Spiegel vor-
halte, was auf ſie, als Urſache oder als Wirkung, mit-
telbar oder unmittelbar, eine Beziehung hat.

Von dieſer Seite betrachtet ſind auch die Freude,
der Hunger, das Verlangen, die Furcht und alle Ge-
muͤthsbewegungen und Begierden und Leidenſchaften,
Vorſtellungen, wie es die Jdeen von der Sonne, von
einem Pferde, von einem Menſchen, ſind. Wenn es
auf nichts weiter ankommt, als auf den Redegebrauch;
ſo will ich mich gerne zu dieſem bequemen. Wer ver-
diente mehr Geſetzgeber in der philoſophiſchen Sprache zu
ſeyn, als Leibnitz? Aber was wird denn nun dadurch
aufgeklaͤret, wenn wir alle Arten der Seelen-Veraͤnde-
rungen Vorſtellungen heißen, und alſo das Vorſtel-
lungen machen
als die Grundthaͤtigkeit zu allen uͤbri-
gen Wirkungsarten anſehen? und, was hier noch naͤher
hergehoͤret, wo iſt das Charakteriſtiſche ſolcher Beſchaf-

fenhei-
A 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0069" n="9"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der Vor&#x017F;tellungen.</hi></fw><lb/>
Jede Vera&#x0364;nderung in der Seele, jede Bewegung, jeder<lb/>
Eindruck auf &#x017F;ie, jede Empfindung, jeder Trieb, jede<lb/>
Tha&#x0364;tigkeit in ihr, fu&#x0364;hret den Ver&#x017F;tand, der &#x017F;charf genug<lb/>
i&#x017F;t, den Zu&#x017F;ammenhang von Ur&#x017F;achen und Wirkungen<lb/>
durchzu&#x017F;ehen, auf andere Sachen hin, &#x017F;o wohl auf die<lb/>
vorhergehende, von welchen &#x017F;ie als Wirkung abha&#x0364;ngt, als<lb/>
auch auf die nachfolgende, welche wiederum als Wir-<lb/>
kung von ihr abha&#x0364;ngen. Hiemit nun den Grund&#x017F;az ver-<lb/>
bunden, daß alles in der wu&#x0364;rklichen Welt in einer <hi rendition="#fr">durch-<lb/>
ga&#x0364;ngigen</hi> Verbindung mit einander &#x017F;tehe, und al&#x017F;o<lb/>
auch jedwede Modifikation in der Seele eine vo&#x0364;llig be-<lb/>
&#x017F;timmte Beziehung auf jede Vera&#x0364;nderung in jedem Theil<lb/>
des ganzen Sy&#x017F;tems der wirklichen Dinge habe; &#x017F;o &#x017F;ind<lb/>
wir mit einem mal bey dem Princip der Leibnitzi&#x017F;chen und<lb/>
Wolfi&#x017F;chen Seelenlehre, daß eine jede Vera&#x0364;nderung<lb/>
in der Seele das <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;ammte Ganze der Welt vor-<lb/>
&#x017F;telle;</hi> und dem unendlichen Ver&#x017F;tande, der jede Ur&#x017F;a-<lb/>
che in ihrer Wirkung, und jede Wirkung in ihrer Ur&#x017F;a-<lb/>
che, erkennt, alles dasjenige wie in einem Spiegel vor-<lb/>
halte, was auf &#x017F;ie, als Ur&#x017F;ache oder als Wirkung, mit-<lb/>
telbar oder unmittelbar, eine Beziehung hat.</p><lb/>
          <p>Von die&#x017F;er Seite betrachtet &#x017F;ind auch die Freude,<lb/>
der Hunger, das Verlangen, die Furcht und alle Ge-<lb/>
mu&#x0364;thsbewegungen und Begierden und Leiden&#x017F;chaften,<lb/>
Vor&#x017F;tellungen, wie es die Jdeen von der Sonne, von<lb/>
einem Pferde, von einem Men&#x017F;chen, &#x017F;ind. Wenn es<lb/>
auf nichts weiter ankommt, als auf den Redegebrauch;<lb/>
&#x017F;o will ich mich gerne zu die&#x017F;em bequemen. Wer ver-<lb/>
diente mehr Ge&#x017F;etzgeber in der philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Sprache zu<lb/>
&#x017F;eyn, als <hi rendition="#fr">Leibnitz?</hi> Aber was wird denn nun dadurch<lb/>
aufgekla&#x0364;ret, wenn wir alle Arten der Seelen-Vera&#x0364;nde-<lb/>
rungen <hi rendition="#fr">Vor&#x017F;tellungen</hi> heißen, und al&#x017F;o das <hi rendition="#fr">Vor&#x017F;tel-<lb/>
lungen machen</hi> als die Grundtha&#x0364;tigkeit zu allen u&#x0364;bri-<lb/>
gen Wirkungsarten an&#x017F;ehen? und, was hier noch na&#x0364;her<lb/>
hergeho&#x0364;ret, wo i&#x017F;t das Charakteri&#x017F;ti&#x017F;che &#x017F;olcher Be&#x017F;chaf-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">A 5</fw><fw place="bottom" type="catch">fenhei-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0069] der Vorſtellungen. Jede Veraͤnderung in der Seele, jede Bewegung, jeder Eindruck auf ſie, jede Empfindung, jeder Trieb, jede Thaͤtigkeit in ihr, fuͤhret den Verſtand, der ſcharf genug iſt, den Zuſammenhang von Urſachen und Wirkungen durchzuſehen, auf andere Sachen hin, ſo wohl auf die vorhergehende, von welchen ſie als Wirkung abhaͤngt, als auch auf die nachfolgende, welche wiederum als Wir- kung von ihr abhaͤngen. Hiemit nun den Grundſaz ver- bunden, daß alles in der wuͤrklichen Welt in einer durch- gaͤngigen Verbindung mit einander ſtehe, und alſo auch jedwede Modifikation in der Seele eine voͤllig be- ſtimmte Beziehung auf jede Veraͤnderung in jedem Theil des ganzen Syſtems der wirklichen Dinge habe; ſo ſind wir mit einem mal bey dem Princip der Leibnitziſchen und Wolfiſchen Seelenlehre, daß eine jede Veraͤnderung in der Seele das Geſammte Ganze der Welt vor- ſtelle; und dem unendlichen Verſtande, der jede Urſa- che in ihrer Wirkung, und jede Wirkung in ihrer Urſa- che, erkennt, alles dasjenige wie in einem Spiegel vor- halte, was auf ſie, als Urſache oder als Wirkung, mit- telbar oder unmittelbar, eine Beziehung hat. Von dieſer Seite betrachtet ſind auch die Freude, der Hunger, das Verlangen, die Furcht und alle Ge- muͤthsbewegungen und Begierden und Leidenſchaften, Vorſtellungen, wie es die Jdeen von der Sonne, von einem Pferde, von einem Menſchen, ſind. Wenn es auf nichts weiter ankommt, als auf den Redegebrauch; ſo will ich mich gerne zu dieſem bequemen. Wer ver- diente mehr Geſetzgeber in der philoſophiſchen Sprache zu ſeyn, als Leibnitz? Aber was wird denn nun dadurch aufgeklaͤret, wenn wir alle Arten der Seelen-Veraͤnde- rungen Vorſtellungen heißen, und alſo das Vorſtel- lungen machen als die Grundthaͤtigkeit zu allen uͤbri- gen Wirkungsarten anſehen? und, was hier noch naͤher hergehoͤret, wo iſt das Charakteriſtiſche ſolcher Beſchaf- fenhei- A 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/69
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/69>, abgerufen am 22.11.2024.