"derselben, die sich nicht vorher instinktartig schon geäus- "sert hätte, und gefühlet worden wäre." Wir haben ja selbst Vorstellungen schon in uns gemacht, sie wieder erwecket, sie gegen einander gestellet, verglichen, und geurtheilet, ehe wir wissen, was dieß in uns sey, und ehe wir eine Jdee davon haben könnten. Auf gleiche Art müssen wir die Glieder des Körpers gebrauchet ha- ben, ehe wir eine Jdee von diesen Bewegungen erlan- gen können. Ehe wir uns einen Begriff machen von einer Selbstbestimmung, von einem Entschlusse, sind alle diese Handlungen schon vorher von uns verrichtet worden. Auch hier bestätiget die Erfahrung den allge- meinen Satz, daß jedwede Vorstellung eine vorherge- gangene Empfindung erfodere, aus der sie genommen worden ist. Dagegen haben wir auch keine Jdeen von Handlungen, die wir nicht empfunden haben. Wir können nicht fliegen, wie die Vögel, wir haben also auch von dieser Aktion selbst keinen weitern Begriff, als nur den von ihren Wirkungen, die empfunden worden sind, nebst der unbestimmten Jdee von der Anstrengung der Arme und der Füße, und von einer rudernden Bewe- gung, dergleichen wir selbst empfunden haben. Die Vorstellung ist bey uns eine selbstgemachte Fiktion. Was das Schwimmen für eine Handlung sey, davon hat ei- ner, der es nie selbst versucht, keine andere Vorstellung, als ein Hottentotte von dem tiefsinnigen Nachdenken.
Dieser Satz also, "daß instinktartige Kraftäus- serungen vorhergehen, ehe wir Vorstellungen von ihnen haben können," ist von einer gleichen Zu- verläßigkeit, wie der Satz, daß alle Vorstellungen vor- hergehende Empfindungen erfodern. Aber dieser letzte Satz ist in dem Umfange wahr, in dem es wahr ist, daß alle Vorstellungen nichts anders sind, als hinterbliebene Spuren von absoluten Modifikationen, die vorher gefüh- let worden sind.
Daher
X. Verſuch. Ueber die Beziehung
„derſelben, die ſich nicht vorher inſtinktartig ſchon geaͤuſ- „ſert haͤtte, und gefuͤhlet worden waͤre.‟ Wir haben ja ſelbſt Vorſtellungen ſchon in uns gemacht, ſie wieder erwecket, ſie gegen einander geſtellet, verglichen, und geurtheilet, ehe wir wiſſen, was dieß in uns ſey, und ehe wir eine Jdee davon haben koͤnnten. Auf gleiche Art muͤſſen wir die Glieder des Koͤrpers gebrauchet ha- ben, ehe wir eine Jdee von dieſen Bewegungen erlan- gen koͤnnen. Ehe wir uns einen Begriff machen von einer Selbſtbeſtimmung, von einem Entſchluſſe, ſind alle dieſe Handlungen ſchon vorher von uns verrichtet worden. Auch hier beſtaͤtiget die Erfahrung den allge- meinen Satz, daß jedwede Vorſtellung eine vorherge- gangene Empfindung erfodere, aus der ſie genommen worden iſt. Dagegen haben wir auch keine Jdeen von Handlungen, die wir nicht empfunden haben. Wir koͤnnen nicht fliegen, wie die Voͤgel, wir haben alſo auch von dieſer Aktion ſelbſt keinen weitern Begriff, als nur den von ihren Wirkungen, die empfunden worden ſind, nebſt der unbeſtimmten Jdee von der Anſtrengung der Arme und der Fuͤße, und von einer rudernden Bewe- gung, dergleichen wir ſelbſt empfunden haben. Die Vorſtellung iſt bey uns eine ſelbſtgemachte Fiktion. Was das Schwimmen fuͤr eine Handlung ſey, davon hat ei- ner, der es nie ſelbſt verſucht, keine andere Vorſtellung, als ein Hottentotte von dem tiefſinnigen Nachdenken.
Dieſer Satz alſo, „daß inſtinktartige Kraftaͤuſ- ſerungen vorhergehen, ehe wir Vorſtellungen von ihnen haben koͤnnen,‟ iſt von einer gleichen Zu- verlaͤßigkeit, wie der Satz, daß alle Vorſtellungen vor- hergehende Empfindungen erfodern. Aber dieſer letzte Satz iſt in dem Umfange wahr, in dem es wahr iſt, daß alle Vorſtellungen nichts anders ſind, als hinterbliebene Spuren von abſoluten Modifikationen, die vorher gefuͤh- let worden ſind.
Daher
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X. Verſuch. Ueber die Beziehung
„derſelben, die ſich nicht vorher inſtinktartig ſchon geaͤuſ-
„ſert haͤtte, und gefuͤhlet worden waͤre.‟ Wir haben
ja ſelbſt Vorſtellungen ſchon in uns gemacht, ſie wieder
erwecket, ſie gegen einander geſtellet, verglichen, und
geurtheilet, ehe wir wiſſen, was dieß in uns ſey, und
ehe wir eine Jdee davon haben koͤnnten. Auf gleiche
Art muͤſſen wir die Glieder des Koͤrpers gebrauchet ha-
ben, ehe wir eine Jdee von dieſen Bewegungen erlan-
gen koͤnnen. Ehe wir uns einen Begriff machen von
einer Selbſtbeſtimmung, von einem Entſchluſſe, ſind
alle dieſe Handlungen ſchon vorher von uns verrichtet
worden. Auch hier beſtaͤtiget die Erfahrung den allge-
meinen Satz, daß jedwede Vorſtellung eine vorherge-
gangene Empfindung erfodere, aus der ſie genommen
worden iſt. Dagegen haben wir auch keine Jdeen von
Handlungen, die wir nicht empfunden haben. Wir
koͤnnen nicht fliegen, wie die Voͤgel, wir haben alſo auch
von dieſer Aktion ſelbſt keinen weitern Begriff, als nur
den von ihren Wirkungen, die empfunden worden ſind,
nebſt der unbeſtimmten Jdee von der Anſtrengung der
Arme und der Fuͤße, und von einer rudernden Bewe-
gung, dergleichen wir ſelbſt empfunden haben. Die
Vorſtellung iſt bey uns eine ſelbſtgemachte Fiktion. Was
das Schwimmen fuͤr eine Handlung ſey, davon hat ei-
ner, der es nie ſelbſt verſucht, keine andere Vorſtellung,
als ein Hottentotte von dem tiefſinnigen Nachdenken.
Dieſer Satz alſo, „daß inſtinktartige Kraftaͤuſ-
ſerungen vorhergehen, ehe wir Vorſtellungen
von ihnen haben koͤnnen,‟ iſt von einer gleichen Zu-
verlaͤßigkeit, wie der Satz, daß alle Vorſtellungen vor-
hergehende Empfindungen erfodern. Aber dieſer letzte
Satz iſt in dem Umfange wahr, in dem es wahr iſt, daß
alle Vorſtellungen nichts anders ſind, als hinterbliebene
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 628. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/688>, abgerufen am 24.11.2024.
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