Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

IX. Versuch. Ueber das Grundprincip
zu machen, das ist, die ihr von äußern Ursachen beyge-
brachten Eindrücke in sich eine Weile zu erhalten, von
ihnen Spuren aufzubewahren, solche wiederum zu er-
wecken, sie wieder erweckt gegenwärtig zu erhalten, zu
verbinden, zu trennen, stärker und völliger auszubilden,
oder auch sie zurück zu legen, und zu verdunkeln. Die
vorstellende Kraft ist eine innere Selbstthätigkeit des
nämlichen Vermögens, welches aufnimmt und fühlet.

Jede wieder erweckte Empfindung hat etwas von
der ersten Empfindung an sich, aus der sie entstanden ist.
Jede Wiedervorstellung reizet also auch die Seelenkraft
auf eine ähnliche Art. Die Vorstellung wird gefühlet,
und leidet eine thätige Zurückwirkung der Grundkraft.
Die Wirkung von dieser ist, daß die Wiedervorstellung
entweder fortgesetzet, und mehr und stärker ausgedrückt,
oder verdunkelt und unterdrücket wird.

Mehrere solcher Vorstellungen bringen nach ihren
verschiedenen Beziehungen und Verhältnissen in der Seele
neue absolute Modifikationen hervor. Dergleichen ent-
stehen nicht weniger von den ersten Empfindungen. Diese
neue Veränderungen sind auch von neuen Gegenständen
des Gefühls und der vorstellenden Kraft. Die Harmo-
nie der Töne, die Uebereinstimmung des Wahren, der
Reiz des Guten, die bewegenden Antriebe des Jnteres-
sirenden, und dergleichen, werden gefühlet, und die vor-
stellende Kraft machet auch aus diesen gefühlten Modi-
fikationen, Vorstellungen.

Zu diesen Gefühlen der Verhältnisse und Beziehun-
gen gehört auch das Gefühl des Uebergangs, das
Gefühl von derjenigen Veränderung, welche die Thä-
tigkeit der vorstellenden Kraft leidet, wenn eine Vor-
stellung auf die andere folget, oder wenn die Kraft von
der vorzüglichen Beschäftigung mit der einen, zu einer
Anwendung auf die andere übergehet. *) Hier entstehet

ebenfalls
*) Zweeter Versuch. IV. 2.

IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip
zu machen, das iſt, die ihr von aͤußern Urſachen beyge-
brachten Eindruͤcke in ſich eine Weile zu erhalten, von
ihnen Spuren aufzubewahren, ſolche wiederum zu er-
wecken, ſie wieder erweckt gegenwaͤrtig zu erhalten, zu
verbinden, zu trennen, ſtaͤrker und voͤlliger auszubilden,
oder auch ſie zuruͤck zu legen, und zu verdunkeln. Die
vorſtellende Kraft iſt eine innere Selbſtthaͤtigkeit des
naͤmlichen Vermoͤgens, welches aufnimmt und fuͤhlet.

Jede wieder erweckte Empfindung hat etwas von
der erſten Empfindung an ſich, aus der ſie entſtanden iſt.
Jede Wiedervorſtellung reizet alſo auch die Seelenkraft
auf eine aͤhnliche Art. Die Vorſtellung wird gefuͤhlet,
und leidet eine thaͤtige Zuruͤckwirkung der Grundkraft.
Die Wirkung von dieſer iſt, daß die Wiedervorſtellung
entweder fortgeſetzet, und mehr und ſtaͤrker ausgedruͤckt,
oder verdunkelt und unterdruͤcket wird.

Mehrere ſolcher Vorſtellungen bringen nach ihren
verſchiedenen Beziehungen und Verhaͤltniſſen in der Seele
neue abſolute Modifikationen hervor. Dergleichen ent-
ſtehen nicht weniger von den erſten Empfindungen. Dieſe
neue Veraͤnderungen ſind auch von neuen Gegenſtaͤnden
des Gefuͤhls und der vorſtellenden Kraft. Die Harmo-
nie der Toͤne, die Uebereinſtimmung des Wahren, der
Reiz des Guten, die bewegenden Antriebe des Jntereſ-
ſirenden, und dergleichen, werden gefuͤhlet, und die vor-
ſtellende Kraft machet auch aus dieſen gefuͤhlten Modi-
fikationen, Vorſtellungen.

Zu dieſen Gefuͤhlen der Verhaͤltniſſe und Beziehun-
gen gehoͤrt auch das Gefuͤhl des Uebergangs, das
Gefuͤhl von derjenigen Veraͤnderung, welche die Thaͤ-
tigkeit der vorſtellenden Kraft leidet, wenn eine Vor-
ſtellung auf die andere folget, oder wenn die Kraft von
der vorzuͤglichen Beſchaͤftigung mit der einen, zu einer
Anwendung auf die andere uͤbergehet. *) Hier entſtehet

ebenfalls
*) Zweeter Verſuch. IV. 2.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0672" n="612"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">IX.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber das Grundprincip</hi></fw><lb/>
zu machen, das i&#x017F;t, die ihr von a&#x0364;ußern Ur&#x017F;achen beyge-<lb/>
brachten Eindru&#x0364;cke in &#x017F;ich eine Weile zu erhalten, von<lb/>
ihnen Spuren aufzubewahren, &#x017F;olche wiederum zu er-<lb/>
wecken, &#x017F;ie wieder erweckt gegenwa&#x0364;rtig zu erhalten, zu<lb/>
verbinden, zu trennen, &#x017F;ta&#x0364;rker und vo&#x0364;lliger auszubilden,<lb/>
oder auch &#x017F;ie zuru&#x0364;ck zu legen, und zu verdunkeln. Die<lb/><hi rendition="#fr">vor&#x017F;tellende Kraft</hi> i&#x017F;t eine innere Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit des<lb/>
na&#x0364;mlichen Vermo&#x0364;gens, welches aufnimmt und fu&#x0364;hlet.</p><lb/>
            <p>Jede wieder erweckte Empfindung hat etwas von<lb/>
der er&#x017F;ten Empfindung an &#x017F;ich, aus der &#x017F;ie ent&#x017F;tanden i&#x017F;t.<lb/>
Jede Wiedervor&#x017F;tellung reizet al&#x017F;o auch die Seelenkraft<lb/>
auf eine a&#x0364;hnliche Art. Die Vor&#x017F;tellung wird gefu&#x0364;hlet,<lb/>
und leidet eine tha&#x0364;tige Zuru&#x0364;ckwirkung der Grundkraft.<lb/>
Die Wirkung von die&#x017F;er i&#x017F;t, daß die Wiedervor&#x017F;tellung<lb/>
entweder fortge&#x017F;etzet, und mehr und &#x017F;ta&#x0364;rker ausgedru&#x0364;ckt,<lb/>
oder verdunkelt und unterdru&#x0364;cket wird.</p><lb/>
            <p>Mehrere &#x017F;olcher Vor&#x017F;tellungen bringen nach ihren<lb/>
ver&#x017F;chiedenen Beziehungen und Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en in der Seele<lb/>
neue ab&#x017F;olute Modifikationen hervor. Dergleichen ent-<lb/>
&#x017F;tehen nicht weniger von den er&#x017F;ten Empfindungen. Die&#x017F;e<lb/>
neue Vera&#x0364;nderungen &#x017F;ind auch von neuen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden<lb/>
des Gefu&#x0364;hls und der vor&#x017F;tellenden Kraft. Die Harmo-<lb/>
nie der To&#x0364;ne, die Ueberein&#x017F;timmung des Wahren, der<lb/>
Reiz des Guten, die bewegenden Antriebe des Jntere&#x017F;-<lb/>
&#x017F;irenden, und dergleichen, werden gefu&#x0364;hlet, und die vor-<lb/>
&#x017F;tellende Kraft machet auch aus die&#x017F;en gefu&#x0364;hlten Modi-<lb/>
fikationen, Vor&#x017F;tellungen.</p><lb/>
            <p>Zu die&#x017F;en Gefu&#x0364;hlen der Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e und Beziehun-<lb/>
gen geho&#x0364;rt auch das <hi rendition="#fr">Gefu&#x0364;hl des Uebergangs,</hi> das<lb/>
Gefu&#x0364;hl von derjenigen Vera&#x0364;nderung, welche die Tha&#x0364;-<lb/>
tigkeit der vor&#x017F;tellenden Kraft leidet, wenn eine Vor-<lb/>
&#x017F;tellung auf die andere folget, oder wenn die Kraft von<lb/>
der vorzu&#x0364;glichen Be&#x017F;cha&#x0364;ftigung mit der einen, zu einer<lb/>
Anwendung auf die andere u&#x0364;bergehet. <note place="foot" n="*)">Zweeter Ver&#x017F;uch. <hi rendition="#aq">IV.</hi> 2.</note> Hier ent&#x017F;tehet<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ebenfalls</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[612/0672] IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip zu machen, das iſt, die ihr von aͤußern Urſachen beyge- brachten Eindruͤcke in ſich eine Weile zu erhalten, von ihnen Spuren aufzubewahren, ſolche wiederum zu er- wecken, ſie wieder erweckt gegenwaͤrtig zu erhalten, zu verbinden, zu trennen, ſtaͤrker und voͤlliger auszubilden, oder auch ſie zuruͤck zu legen, und zu verdunkeln. Die vorſtellende Kraft iſt eine innere Selbſtthaͤtigkeit des naͤmlichen Vermoͤgens, welches aufnimmt und fuͤhlet. Jede wieder erweckte Empfindung hat etwas von der erſten Empfindung an ſich, aus der ſie entſtanden iſt. Jede Wiedervorſtellung reizet alſo auch die Seelenkraft auf eine aͤhnliche Art. Die Vorſtellung wird gefuͤhlet, und leidet eine thaͤtige Zuruͤckwirkung der Grundkraft. Die Wirkung von dieſer iſt, daß die Wiedervorſtellung entweder fortgeſetzet, und mehr und ſtaͤrker ausgedruͤckt, oder verdunkelt und unterdruͤcket wird. Mehrere ſolcher Vorſtellungen bringen nach ihren verſchiedenen Beziehungen und Verhaͤltniſſen in der Seele neue abſolute Modifikationen hervor. Dergleichen ent- ſtehen nicht weniger von den erſten Empfindungen. Dieſe neue Veraͤnderungen ſind auch von neuen Gegenſtaͤnden des Gefuͤhls und der vorſtellenden Kraft. Die Harmo- nie der Toͤne, die Uebereinſtimmung des Wahren, der Reiz des Guten, die bewegenden Antriebe des Jntereſ- ſirenden, und dergleichen, werden gefuͤhlet, und die vor- ſtellende Kraft machet auch aus dieſen gefuͤhlten Modi- fikationen, Vorſtellungen. Zu dieſen Gefuͤhlen der Verhaͤltniſſe und Beziehun- gen gehoͤrt auch das Gefuͤhl des Uebergangs, das Gefuͤhl von derjenigen Veraͤnderung, welche die Thaͤ- tigkeit der vorſtellenden Kraft leidet, wenn eine Vor- ſtellung auf die andere folget, oder wenn die Kraft von der vorzuͤglichen Beſchaͤftigung mit der einen, zu einer Anwendung auf die andere uͤbergehet. *) Hier entſtehet ebenfalls *) Zweeter Verſuch. IV. 2.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/672
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/672>, abgerufen am 22.12.2024.