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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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des Empfindens, des Vorstellens etc.
zige von den Veränderungen in den Steinen entwischet
wäre.

Es kann dieselbige Lebhaftigkeit und Lage in den
Vorstellungen, und dasselbige Gefühl des Uebergangs,
wodurch die Denkkraft sonsten zum Urtheilen bestimmet
wird, so bleiben, wie sie vorher waren, und doch un-
kräftig gemacht werden, die Denkkraft auf dieselbige Art
in Thätigkeit zu setzen. Warum urtheilet der Astronom
nicht eben so über das Verhältniß der Weltkörper, als
der gemeine Mann? und als er selbst ehedem geurthei-
let hat? Die sinnlichen Vorstellungen sind noch diesel-
bigen, auch noch das Gefühl des Uebergangs dasselbige.
Daher, wird man sagen, weil andere Betrachtungen
dazwischen treten. Ohne Zweifel ist es also. Es ist
hier ein Hinderniß des vorigen Urtheils, und die Wir-
kung erfolget nicht, welche sonsten unter denselbigen Um-
ständen erfolget seyn würde, und die auch noch jetzo so-
gleich wiederum erfolget, sobald die hindernde Ursache
weggenommen wird. Allein auf welche Art wirken hier
wohl die Gegengründe? heben sie etwan das vormalige
Gefühl, oder die vormalige Lage der Vorstellungen auf,
oder unterdrücken sie solche? oder ziehen sie nicht vielmehr
nur die Reflexion stärker nach einer andern Seite hin,
etwan wie ein größeres Gewicht ein kleineres zum Stei-
gen bringet, ohne daß es die niederwärts druckende Kraft
des letztern im mindesten schwäche? Es giebt Beyspiele
genug von der letztern Art. Wie oft urtheilen wir nach
einer einseitigen Betrachtung der Sache, und ändern
dieses Urtheil, nachdem wir sie in mehrern Beziehungen
erwogen haben; und sind zugleich vermögend, den erstern
Gang der Reflexion, auf welchem sie verleitet ward, in
allen Theilen, mit allen vorhergehenden Vorstellungen
und Gefühlen, die zum Jrrthnm führten, völlig deut-
lich uns vorzustellen. Berkeley und Leibnitz fühlten
so gut, wie andere, die Wirkungen des Jnstinkts, welche

unserer

des Empfindens, des Vorſtellens ⁊c.
zige von den Veraͤnderungen in den Steinen entwiſchet
waͤre.

Es kann dieſelbige Lebhaftigkeit und Lage in den
Vorſtellungen, und daſſelbige Gefuͤhl des Uebergangs,
wodurch die Denkkraft ſonſten zum Urtheilen beſtimmet
wird, ſo bleiben, wie ſie vorher waren, und doch un-
kraͤftig gemacht werden, die Denkkraft auf dieſelbige Art
in Thaͤtigkeit zu ſetzen. Warum urtheilet der Aſtronom
nicht eben ſo uͤber das Verhaͤltniß der Weltkoͤrper, als
der gemeine Mann? und als er ſelbſt ehedem geurthei-
let hat? Die ſinnlichen Vorſtellungen ſind noch dieſel-
bigen, auch noch das Gefuͤhl des Uebergangs daſſelbige.
Daher, wird man ſagen, weil andere Betrachtungen
dazwiſchen treten. Ohne Zweifel iſt es alſo. Es iſt
hier ein Hinderniß des vorigen Urtheils, und die Wir-
kung erfolget nicht, welche ſonſten unter denſelbigen Um-
ſtaͤnden erfolget ſeyn wuͤrde, und die auch noch jetzo ſo-
gleich wiederum erfolget, ſobald die hindernde Urſache
weggenommen wird. Allein auf welche Art wirken hier
wohl die Gegengruͤnde? heben ſie etwan das vormalige
Gefuͤhl, oder die vormalige Lage der Vorſtellungen auf,
oder unterdruͤcken ſie ſolche? oder ziehen ſie nicht vielmehr
nur die Reflexion ſtaͤrker nach einer andern Seite hin,
etwan wie ein groͤßeres Gewicht ein kleineres zum Stei-
gen bringet, ohne daß es die niederwaͤrts druckende Kraft
des letztern im mindeſten ſchwaͤche? Es giebt Beyſpiele
genug von der letztern Art. Wie oft urtheilen wir nach
einer einſeitigen Betrachtung der Sache, und aͤndern
dieſes Urtheil, nachdem wir ſie in mehrern Beziehungen
erwogen haben; und ſind zugleich vermoͤgend, den erſtern
Gang der Reflexion, auf welchem ſie verleitet ward, in
allen Theilen, mit allen vorhergehenden Vorſtellungen
und Gefuͤhlen, die zum Jrrthnm fuͤhrten, voͤllig deut-
lich uns vorzuſtellen. Berkeley und Leibnitz fuͤhlten
ſo gut, wie andere, die Wirkungen des Jnſtinkts, welche

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[603/0663] des Empfindens, des Vorſtellens ⁊c. zige von den Veraͤnderungen in den Steinen entwiſchet waͤre. Es kann dieſelbige Lebhaftigkeit und Lage in den Vorſtellungen, und daſſelbige Gefuͤhl des Uebergangs, wodurch die Denkkraft ſonſten zum Urtheilen beſtimmet wird, ſo bleiben, wie ſie vorher waren, und doch un- kraͤftig gemacht werden, die Denkkraft auf dieſelbige Art in Thaͤtigkeit zu ſetzen. Warum urtheilet der Aſtronom nicht eben ſo uͤber das Verhaͤltniß der Weltkoͤrper, als der gemeine Mann? und als er ſelbſt ehedem geurthei- let hat? Die ſinnlichen Vorſtellungen ſind noch dieſel- bigen, auch noch das Gefuͤhl des Uebergangs daſſelbige. Daher, wird man ſagen, weil andere Betrachtungen dazwiſchen treten. Ohne Zweifel iſt es alſo. Es iſt hier ein Hinderniß des vorigen Urtheils, und die Wir- kung erfolget nicht, welche ſonſten unter denſelbigen Um- ſtaͤnden erfolget ſeyn wuͤrde, und die auch noch jetzo ſo- gleich wiederum erfolget, ſobald die hindernde Urſache weggenommen wird. Allein auf welche Art wirken hier wohl die Gegengruͤnde? heben ſie etwan das vormalige Gefuͤhl, oder die vormalige Lage der Vorſtellungen auf, oder unterdruͤcken ſie ſolche? oder ziehen ſie nicht vielmehr nur die Reflexion ſtaͤrker nach einer andern Seite hin, etwan wie ein groͤßeres Gewicht ein kleineres zum Stei- gen bringet, ohne daß es die niederwaͤrts druckende Kraft des letztern im mindeſten ſchwaͤche? Es giebt Beyſpiele genug von der letztern Art. Wie oft urtheilen wir nach einer einſeitigen Betrachtung der Sache, und aͤndern dieſes Urtheil, nachdem wir ſie in mehrern Beziehungen erwogen haben; und ſind zugleich vermoͤgend, den erſtern Gang der Reflexion, auf welchem ſie verleitet ward, in allen Theilen, mit allen vorhergehenden Vorſtellungen und Gefuͤhlen, die zum Jrrthnm fuͤhrten, voͤllig deut- lich uns vorzuſtellen. Berkeley und Leibnitz fuͤhlten ſo gut, wie andere, die Wirkungen des Jnſtinkts, welche unſerer

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/663>, abgerufen am 22.11.2024.