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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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IX. Versuch. Ueber das Grundprincip
man auch auf die Seite gegenüber einen Blick, wo
sich die Sache anders darstellet.

Da lehret die Erfahrung zunächst, daß die drey Ak-
tionen der Seele, Fühlen, Vorstellungen machen,
und Denken sich gewissermaßen ausschließen. Man
vergleiche einen empfindsamen Menschen, der von den
Zaubertönen eines Lolli entzücket ist, mit einem Dichter
in der Stunde der Begeisterung; und dann beide mit
einem Archimedes unter seinen Zirkeln. Jn dem er-
stern herrschet das Gefühl; in dem zweeten die Vor-
stellungskraft,
und in dem dritten die Denkkraft.
Jn jedem äußert sich jedes Vermögen. Aber woferne
das Gefühl in dem erstern das überwiegende bleiben soll,
wie es ist, so muß die Seele sich weder dem Dichten noch
dem Denken überlassen. Jn dem Poeten arbeitet die
Vorstellungskraft, unter der Leitung der Reflexion, wenn
kein Ungeheuer hervorkommen soll; aber die Spekula-
tion der Vernunft muß zurückbleiben, oder das Feuer der
Phantasie verlöscht. Jn dem Kopf des Geometers sind
auch Bilder und Vorstellungen in Arbeit; aber dieß ist
bey weitem nicht die Hauptbeschäftigung seines Geistes
im Nachdenken. Es ist gemeine Erfahrung, je mehr
wir uns dem Gefühl überlassen, desto weniger können
wir denken; und wenn die Einbildungskraft herrschet,
wie im Traum oder in einer Leidenschaft, so werden die
Wirkungen der Vernunft verhindert. Wenn diese Aktio-
nen dieselbigen, und nur in Stufen unterschieden sind,
warum hindern und verdrängen sie sich auf eine solche
Art, die ein offenbarer Beweis ist, daß, wenn die eine
statt der andern die herrschende werden soll, nicht allein
die Gegenstände der Beschäftigung, sondern auch die Art
und Weise der Wirksamkeit in der Seele geändert wer-
den muß?

Es verstehet sich aber, daß ich hier die Bedeutung
der Wörter beybehalte, wie solche einmal festgesetzet ist.

Da

IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip
man auch auf die Seite gegenuͤber einen Blick, wo
ſich die Sache anders darſtellet.

Da lehret die Erfahrung zunaͤchſt, daß die drey Ak-
tionen der Seele, Fuͤhlen, Vorſtellungen machen,
und Denken ſich gewiſſermaßen ausſchließen. Man
vergleiche einen empfindſamen Menſchen, der von den
Zaubertoͤnen eines Lolli entzuͤcket iſt, mit einem Dichter
in der Stunde der Begeiſterung; und dann beide mit
einem Archimedes unter ſeinen Zirkeln. Jn dem er-
ſtern herrſchet das Gefuͤhl; in dem zweeten die Vor-
ſtellungskraft,
und in dem dritten die Denkkraft.
Jn jedem aͤußert ſich jedes Vermoͤgen. Aber woferne
das Gefuͤhl in dem erſtern das uͤberwiegende bleiben ſoll,
wie es iſt, ſo muß die Seele ſich weder dem Dichten noch
dem Denken uͤberlaſſen. Jn dem Poeten arbeitet die
Vorſtellungskraft, unter der Leitung der Reflexion, wenn
kein Ungeheuer hervorkommen ſoll; aber die Spekula-
tion der Vernunft muß zuruͤckbleiben, oder das Feuer der
Phantaſie verloͤſcht. Jn dem Kopf des Geometers ſind
auch Bilder und Vorſtellungen in Arbeit; aber dieß iſt
bey weitem nicht die Hauptbeſchaͤftigung ſeines Geiſtes
im Nachdenken. Es iſt gemeine Erfahrung, je mehr
wir uns dem Gefuͤhl uͤberlaſſen, deſto weniger koͤnnen
wir denken; und wenn die Einbildungskraft herrſchet,
wie im Traum oder in einer Leidenſchaft, ſo werden die
Wirkungen der Vernunft verhindert. Wenn dieſe Aktio-
nen dieſelbigen, und nur in Stufen unterſchieden ſind,
warum hindern und verdraͤngen ſie ſich auf eine ſolche
Art, die ein offenbarer Beweis iſt, daß, wenn die eine
ſtatt der andern die herrſchende werden ſoll, nicht allein
die Gegenſtaͤnde der Beſchaͤftigung, ſondern auch die Art
und Weiſe der Wirkſamkeit in der Seele geaͤndert wer-
den muß?

Es verſtehet ſich aber, daß ich hier die Bedeutung
der Woͤrter beybehalte, wie ſolche einmal feſtgeſetzet iſt.

Da
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[600/0660] IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip man auch auf die Seite gegenuͤber einen Blick, wo ſich die Sache anders darſtellet. Da lehret die Erfahrung zunaͤchſt, daß die drey Ak- tionen der Seele, Fuͤhlen, Vorſtellungen machen, und Denken ſich gewiſſermaßen ausſchließen. Man vergleiche einen empfindſamen Menſchen, der von den Zaubertoͤnen eines Lolli entzuͤcket iſt, mit einem Dichter in der Stunde der Begeiſterung; und dann beide mit einem Archimedes unter ſeinen Zirkeln. Jn dem er- ſtern herrſchet das Gefuͤhl; in dem zweeten die Vor- ſtellungskraft, und in dem dritten die Denkkraft. Jn jedem aͤußert ſich jedes Vermoͤgen. Aber woferne das Gefuͤhl in dem erſtern das uͤberwiegende bleiben ſoll, wie es iſt, ſo muß die Seele ſich weder dem Dichten noch dem Denken uͤberlaſſen. Jn dem Poeten arbeitet die Vorſtellungskraft, unter der Leitung der Reflexion, wenn kein Ungeheuer hervorkommen ſoll; aber die Spekula- tion der Vernunft muß zuruͤckbleiben, oder das Feuer der Phantaſie verloͤſcht. Jn dem Kopf des Geometers ſind auch Bilder und Vorſtellungen in Arbeit; aber dieß iſt bey weitem nicht die Hauptbeſchaͤftigung ſeines Geiſtes im Nachdenken. Es iſt gemeine Erfahrung, je mehr wir uns dem Gefuͤhl uͤberlaſſen, deſto weniger koͤnnen wir denken; und wenn die Einbildungskraft herrſchet, wie im Traum oder in einer Leidenſchaft, ſo werden die Wirkungen der Vernunft verhindert. Wenn dieſe Aktio- nen dieſelbigen, und nur in Stufen unterſchieden ſind, warum hindern und verdraͤngen ſie ſich auf eine ſolche Art, die ein offenbarer Beweis iſt, daß, wenn die eine ſtatt der andern die herrſchende werden ſoll, nicht allein die Gegenſtaͤnde der Beſchaͤftigung, ſondern auch die Art und Weiſe der Wirkſamkeit in der Seele geaͤndert wer- den muß? Es verſtehet ſich aber, daß ich hier die Bedeutung der Woͤrter beybehalte, wie ſolche einmal feſtgeſetzet iſt. Da

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 600. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/660>, abgerufen am 24.11.2024.