IV. Andere Gründe für die Meinung, daß die Denkkraft nur in einem höhern Grade des Gefühls und der vorstellenden Kraft bestehe.
Diese Betrachtungen führen zu der Vorstellung: "die Denkkraft sey wohl nichts anders, als ein höherer Grad des Gefühls und der vorstellenden Kraft." Es giebt noch einige Erfahrungsgründe mehr, welche diese Meinung bestätigen. Doch übereile man sich nicht.
Wenn die höhere Vernunft mit der sinnlichen Denk- kraft verglichen wird, so findet man bey jener, als einer höhern Wirksamkeit der Denkkraft, zugleich auch ein feineres Gefühl der allgemeinen Vorstellungen, und eine größere innere selbstthätige Beschäftigung der vorstellen- den Kraft mit den Gemeinbildern! *) Und da steht die Größe des Gefühls und der vorstellenden Kraft mit der Größe in den Wirkungen der Denkkraft, in einer solchen Gleichheit, daß man allerdings es für sehr wahrschein- lich halten kann, es sey das Denken nichts anders, als eine Wirkung dieses feinen Gefühls und dieser vorstellen- den Kraft, wenn sich beide mit allgemeinen Vorstellun- gen beschäftigen.
Daß aber ein feineres Gefühl bey dem Nachden- ken der Vernunft sich äußere, bedarf keiner Bestätigung. Die allgemeinen Begriffe werden auf einander bezogen; das mag eine Wirkung der vorstellenden Kraft seyn, aber niemals entstehet ein Gewahrnehmen dieser Bezie- hungen, ohne ein Gefühl solcher Beziehungen; und ohne Zweifel ist dieses Gefühl um viele Grade zarter und fei- ner, als dasjenige, dessen man zum Gewahrnehmen der groben sinnlichen Eindrücke benöthiget ist. Wenn all- gemeine Distinktionen sinnlich dargestellet werden, so
kann
*) Achter VersuchV.
IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip
IV. Andere Gruͤnde fuͤr die Meinung, daß die Denkkraft nur in einem hoͤhern Grade des Gefuͤhls und der vorſtellenden Kraft beſtehe.
Dieſe Betrachtungen fuͤhren zu der Vorſtellung: „die Denkkraft ſey wohl nichts anders, als ein hoͤherer Grad des Gefuͤhls und der vorſtellenden Kraft.‟ Es giebt noch einige Erfahrungsgruͤnde mehr, welche dieſe Meinung beſtaͤtigen. Doch uͤbereile man ſich nicht.
Wenn die hoͤhere Vernunft mit der ſinnlichen Denk- kraft verglichen wird, ſo findet man bey jener, als einer hoͤhern Wirkſamkeit der Denkkraft, zugleich auch ein feineres Gefuͤhl der allgemeinen Vorſtellungen, und eine groͤßere innere ſelbſtthaͤtige Beſchaͤftigung der vorſtellen- den Kraft mit den Gemeinbildern! *) Und da ſteht die Groͤße des Gefuͤhls und der vorſtellenden Kraft mit der Groͤße in den Wirkungen der Denkkraft, in einer ſolchen Gleichheit, daß man allerdings es fuͤr ſehr wahrſchein- lich halten kann, es ſey das Denken nichts anders, als eine Wirkung dieſes feinen Gefuͤhls und dieſer vorſtellen- den Kraft, wenn ſich beide mit allgemeinen Vorſtellun- gen beſchaͤftigen.
Daß aber ein feineres Gefuͤhl bey dem Nachden- ken der Vernunft ſich aͤußere, bedarf keiner Beſtaͤtigung. Die allgemeinen Begriffe werden auf einander bezogen; das mag eine Wirkung der vorſtellenden Kraft ſeyn, aber niemals entſtehet ein Gewahrnehmen dieſer Bezie- hungen, ohne ein Gefuͤhl ſolcher Beziehungen; und ohne Zweifel iſt dieſes Gefuͤhl um viele Grade zarter und fei- ner, als dasjenige, deſſen man zum Gewahrnehmen der groben ſinnlichen Eindruͤcke benoͤthiget iſt. Wenn all- gemeine Diſtinktionen ſinnlich dargeſtellet werden, ſo
kann
*) Achter VerſuchV.
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IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip
IV.
Andere Gruͤnde fuͤr die Meinung, daß die
Denkkraft nur in einem hoͤhern Grade des
Gefuͤhls und der vorſtellenden Kraft beſtehe.
Dieſe Betrachtungen fuͤhren zu der Vorſtellung: „die
Denkkraft ſey wohl nichts anders, als ein hoͤherer
Grad des Gefuͤhls und der vorſtellenden Kraft.‟ Es
giebt noch einige Erfahrungsgruͤnde mehr, welche dieſe
Meinung beſtaͤtigen. Doch uͤbereile man ſich nicht.
Wenn die hoͤhere Vernunft mit der ſinnlichen Denk-
kraft verglichen wird, ſo findet man bey jener, als einer
hoͤhern Wirkſamkeit der Denkkraft, zugleich auch ein
feineres Gefuͤhl der allgemeinen Vorſtellungen, und eine
groͤßere innere ſelbſtthaͤtige Beſchaͤftigung der vorſtellen-
den Kraft mit den Gemeinbildern! *) Und da ſteht die
Groͤße des Gefuͤhls und der vorſtellenden Kraft mit der
Groͤße in den Wirkungen der Denkkraft, in einer ſolchen
Gleichheit, daß man allerdings es fuͤr ſehr wahrſchein-
lich halten kann, es ſey das Denken nichts anders, als
eine Wirkung dieſes feinen Gefuͤhls und dieſer vorſtellen-
den Kraft, wenn ſich beide mit allgemeinen Vorſtellun-
gen beſchaͤftigen.
Daß aber ein feineres Gefuͤhl bey dem Nachden-
ken der Vernunft ſich aͤußere, bedarf keiner Beſtaͤtigung.
Die allgemeinen Begriffe werden auf einander bezogen;
das mag eine Wirkung der vorſtellenden Kraft ſeyn,
aber niemals entſtehet ein Gewahrnehmen dieſer Bezie-
hungen, ohne ein Gefuͤhl ſolcher Beziehungen; und ohne
Zweifel iſt dieſes Gefuͤhl um viele Grade zarter und fei-
ner, als dasjenige, deſſen man zum Gewahrnehmen der
groben ſinnlichen Eindruͤcke benoͤthiget iſt. Wenn all-
gemeine Diſtinktionen ſinnlich dargeſtellet werden, ſo
kann
*) Achter Verſuch V.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 598. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/658>, abgerufen am 21.11.2024.
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