Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

VIII. Versuch. Von der Beziehung
und dieselben; in beiden ist die nämliche Art der Thätig-
keit, und die nämliche Form der Kenntnisse. Es wir-
ket in Leibnitzens Spekulationen dasselbige gleichartige
Princip, das in dem Wilden wirket, wenn er daran
denkt, wie er ein Thier erlegen will.

An den sinnlichen Kenntnissen hat die vorstel-
lende Kraft,
welche Bilder aufnimmt, gegenwärtig
darstellet, verbindet, vereiniget, oder trennet, den mei-
sten
Antheil; und das wenigste bey ihnen hanget von
der Verhältnisse und Beziehungen hineinbringenden
Denkkraft ab. Doch ist auch nicht bey allen Arten von
sinnlichen Kenntnissen das Verhältniß dieser beyden Er-
kenntnißkräfte dasselbige. Denn die sinnliche Kenntniß
durch das Gesicht und das Gefühl, die beiden Sinnen,
die der Denkkraft die meiste Nahrung geben, ist schon
höher, schon mehr vernünftig, als die Kenntniß, durch
die Sinne des Gehörs, des Geruchs und des Geschmacks,
weil in jenen Jdeen mehr Vergleichungen, Beziehun-
gen, Folgerungen und dunkle Schlüsse enthalten sind.
Noch größer ist der Antheil, den die Denkkraft an den
allgemeinen Begriffen hat. Da ist die vorstellende Kraft
nur die Dienerinn, und in der Maße, wie die Kennt-
nisse deutlicher und entwickelter werden, ändert auch sich
das Verhältniß in dem Beytrag, den das Gefühl, die
vorstellende Kraft, und das Denkvermögen dazu hergie-
bet, obgleich keins von ihnen gänzlich fehlen kann.

Jn den höhern entwickelten Kenntnissen offenbaret
sich ein höherer Grad eines selbstthätigen Bestrebens
der Denkkraft. Wir lernen unvermerkt sehen, hören,
und den Verstand bey sinnlichen Dingen anwenden; aber
es kostet mehr selbstthätiges Bemühen, die Jdeen zu
entwickeln, und höhere Wissenschaften und zusammen-
hangende Kenntniß zu erwerben. Die gemeinen Denk-
thätigkeiten sind selbstthätige Aeußerungen der Seele,
in so ferne diese die thätige Kraft dazu in sich selbst hat,

aber

VIII. Verſuch. Von der Beziehung
und dieſelben; in beiden iſt die naͤmliche Art der Thaͤtig-
keit, und die naͤmliche Form der Kenntniſſe. Es wir-
ket in Leibnitzens Spekulationen daſſelbige gleichartige
Princip, das in dem Wilden wirket, wenn er daran
denkt, wie er ein Thier erlegen will.

An den ſinnlichen Kenntniſſen hat die vorſtel-
lende Kraft,
welche Bilder aufnimmt, gegenwaͤrtig
darſtellet, verbindet, vereiniget, oder trennet, den mei-
ſten
Antheil; und das wenigſte bey ihnen hanget von
der Verhaͤltniſſe und Beziehungen hineinbringenden
Denkkraft ab. Doch iſt auch nicht bey allen Arten von
ſinnlichen Kenntniſſen das Verhaͤltniß dieſer beyden Er-
kenntnißkraͤfte daſſelbige. Denn die ſinnliche Kenntniß
durch das Geſicht und das Gefuͤhl, die beiden Sinnen,
die der Denkkraft die meiſte Nahrung geben, iſt ſchon
hoͤher, ſchon mehr vernuͤnftig, als die Kenntniß, durch
die Sinne des Gehoͤrs, des Geruchs und des Geſchmacks,
weil in jenen Jdeen mehr Vergleichungen, Beziehun-
gen, Folgerungen und dunkle Schluͤſſe enthalten ſind.
Noch groͤßer iſt der Antheil, den die Denkkraft an den
allgemeinen Begriffen hat. Da iſt die vorſtellende Kraft
nur die Dienerinn, und in der Maße, wie die Kennt-
niſſe deutlicher und entwickelter werden, aͤndert auch ſich
das Verhaͤltniß in dem Beytrag, den das Gefuͤhl, die
vorſtellende Kraft, und das Denkvermoͤgen dazu hergie-
bet, obgleich keins von ihnen gaͤnzlich fehlen kann.

Jn den hoͤhern entwickelten Kenntniſſen offenbaret
ſich ein hoͤherer Grad eines ſelbſtthaͤtigen Beſtrebens
der Denkkraft. Wir lernen unvermerkt ſehen, hoͤren,
und den Verſtand bey ſinnlichen Dingen anwenden; aber
es koſtet mehr ſelbſtthaͤtiges Bemuͤhen, die Jdeen zu
entwickeln, und hoͤhere Wiſſenſchaften und zuſammen-
hangende Kenntniß zu erwerben. Die gemeinen Denk-
thaͤtigkeiten ſind ſelbſtthaͤtige Aeußerungen der Seele,
in ſo ferne dieſe die thaͤtige Kraft dazu in ſich ſelbſt hat,

aber
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0648" n="588"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VIII.</hi> Ver&#x017F;uch. Von der Beziehung</hi></fw><lb/>
und die&#x017F;elben; in beiden i&#x017F;t die na&#x0364;mliche Art der Tha&#x0364;tig-<lb/>
keit, und die na&#x0364;mliche Form der Kenntni&#x017F;&#x017F;e. Es wir-<lb/>
ket in Leibnitzens Spekulationen da&#x017F;&#x017F;elbige gleichartige<lb/>
Princip, das in dem Wilden wirket, wenn er daran<lb/>
denkt, wie er ein Thier erlegen will.</p><lb/>
          <p>An den <hi rendition="#fr">&#x017F;innlichen Kenntni&#x017F;&#x017F;en</hi> hat die <hi rendition="#fr">vor&#x017F;tel-<lb/>
lende Kraft,</hi> welche Bilder aufnimmt, gegenwa&#x0364;rtig<lb/>
dar&#x017F;tellet, verbindet, vereiniget, oder trennet, den <hi rendition="#fr">mei-<lb/>
&#x017F;ten</hi> Antheil; und das <hi rendition="#fr">wenig&#x017F;te</hi> bey ihnen hanget von<lb/>
der Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e und Beziehungen hineinbringenden<lb/>
Denkkraft ab. Doch i&#x017F;t auch nicht bey allen Arten von<lb/>
&#x017F;innlichen Kenntni&#x017F;&#x017F;en das Verha&#x0364;ltniß die&#x017F;er beyden Er-<lb/>
kenntnißkra&#x0364;fte da&#x017F;&#x017F;elbige. Denn die &#x017F;innliche Kenntniß<lb/>
durch das Ge&#x017F;icht und das Gefu&#x0364;hl, die beiden Sinnen,<lb/>
die der Denkkraft die mei&#x017F;te Nahrung geben, i&#x017F;t &#x017F;chon<lb/>
ho&#x0364;her, &#x017F;chon mehr vernu&#x0364;nftig, als die Kenntniß, durch<lb/>
die Sinne des Geho&#x0364;rs, des Geruchs und des Ge&#x017F;chmacks,<lb/>
weil in jenen Jdeen mehr Vergleichungen, Beziehun-<lb/>
gen, Folgerungen und dunkle Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e enthalten &#x017F;ind.<lb/>
Noch gro&#x0364;ßer i&#x017F;t der Antheil, den die Denkkraft an den<lb/>
allgemeinen Begriffen hat. Da i&#x017F;t die vor&#x017F;tellende Kraft<lb/>
nur die Dienerinn, und in der Maße, wie die Kennt-<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e deutlicher und entwickelter werden, a&#x0364;ndert auch &#x017F;ich<lb/>
das Verha&#x0364;ltniß in dem Beytrag, den das Gefu&#x0364;hl, die<lb/>
vor&#x017F;tellende Kraft, und das Denkvermo&#x0364;gen dazu hergie-<lb/>
bet, obgleich keins von ihnen ga&#x0364;nzlich fehlen kann.</p><lb/>
          <p>Jn den ho&#x0364;hern entwickelten Kenntni&#x017F;&#x017F;en offenbaret<lb/>
&#x017F;ich ein ho&#x0364;herer Grad eines <hi rendition="#fr">&#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tigen Be&#x017F;trebens</hi><lb/>
der Denkkraft. Wir lernen unvermerkt &#x017F;ehen, ho&#x0364;ren,<lb/>
und den Ver&#x017F;tand bey &#x017F;innlichen Dingen anwenden; aber<lb/>
es ko&#x017F;tet mehr &#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tiges Bemu&#x0364;hen, die Jdeen zu<lb/>
entwickeln, und ho&#x0364;here Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften und zu&#x017F;ammen-<lb/>
hangende Kenntniß zu erwerben. Die gemeinen Denk-<lb/>
tha&#x0364;tigkeiten &#x017F;ind <hi rendition="#fr">&#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tige</hi> Aeußerungen der Seele,<lb/>
in &#x017F;o ferne die&#x017F;e die tha&#x0364;tige Kraft dazu in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t hat,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">aber</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[588/0648] VIII. Verſuch. Von der Beziehung und dieſelben; in beiden iſt die naͤmliche Art der Thaͤtig- keit, und die naͤmliche Form der Kenntniſſe. Es wir- ket in Leibnitzens Spekulationen daſſelbige gleichartige Princip, das in dem Wilden wirket, wenn er daran denkt, wie er ein Thier erlegen will. An den ſinnlichen Kenntniſſen hat die vorſtel- lende Kraft, welche Bilder aufnimmt, gegenwaͤrtig darſtellet, verbindet, vereiniget, oder trennet, den mei- ſten Antheil; und das wenigſte bey ihnen hanget von der Verhaͤltniſſe und Beziehungen hineinbringenden Denkkraft ab. Doch iſt auch nicht bey allen Arten von ſinnlichen Kenntniſſen das Verhaͤltniß dieſer beyden Er- kenntnißkraͤfte daſſelbige. Denn die ſinnliche Kenntniß durch das Geſicht und das Gefuͤhl, die beiden Sinnen, die der Denkkraft die meiſte Nahrung geben, iſt ſchon hoͤher, ſchon mehr vernuͤnftig, als die Kenntniß, durch die Sinne des Gehoͤrs, des Geruchs und des Geſchmacks, weil in jenen Jdeen mehr Vergleichungen, Beziehun- gen, Folgerungen und dunkle Schluͤſſe enthalten ſind. Noch groͤßer iſt der Antheil, den die Denkkraft an den allgemeinen Begriffen hat. Da iſt die vorſtellende Kraft nur die Dienerinn, und in der Maße, wie die Kennt- niſſe deutlicher und entwickelter werden, aͤndert auch ſich das Verhaͤltniß in dem Beytrag, den das Gefuͤhl, die vorſtellende Kraft, und das Denkvermoͤgen dazu hergie- bet, obgleich keins von ihnen gaͤnzlich fehlen kann. Jn den hoͤhern entwickelten Kenntniſſen offenbaret ſich ein hoͤherer Grad eines ſelbſtthaͤtigen Beſtrebens der Denkkraft. Wir lernen unvermerkt ſehen, hoͤren, und den Verſtand bey ſinnlichen Dingen anwenden; aber es koſtet mehr ſelbſtthaͤtiges Bemuͤhen, die Jdeen zu entwickeln, und hoͤhere Wiſſenſchaften und zuſammen- hangende Kenntniß zu erwerben. Die gemeinen Denk- thaͤtigkeiten ſind ſelbſtthaͤtige Aeußerungen der Seele, in ſo ferne dieſe die thaͤtige Kraft dazu in ſich ſelbſt hat, aber

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/648
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 588. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/648>, abgerufen am 22.11.2024.