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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der höhern Kenntnisse etc.
Jch ziehe ein Perspektiv mehr oder weniger heraus, bis
ich es so getroffen habe, daß sich die Gegenstände da-
durch am deutlichsten zeigen. Recht, da lerne ich durch
Proben und Erfahrungen. Aber der Mann, der die
Optik verstehet, und die Focuslänge der Gläser kennet,
hätte mir es, ohne Proben zu machen, auf einmal sa-
gen können, wie weit ich die Röhre heraus zu ziehen
habe. Der Kurzsichtige nimmt den schon für andere
gut sehende Augen zurecht gestellten Tubus, will ihn nach
den seinigen richten, und probiert vielleicht eine lange
Zeit vergeblich, wenn er die Gläser weiter von einander
ziehet. Der Theorist kann ihm auf einmal sagen: er
müsse sie näher zusammen rücken.

Wenn Berkeley, Hume und Leibnitz es zur
Evidenz durch Schlüsse aus unläugbaren Grundsätzen
gebracht hätten, entweder, daß es keine materielle Welt
außer uns geben könne, oder, daß der wirkliche Ein-
fluß der äußern Objekte auf die Seele, auf einen wah-
ren Widerspruch führe; wenn sie dieß evident gemacht
hätten, so wüßte ich ihnen meinen Beyfall nicht zu ver-
sagen, es wäre denn, daß die entgegengesetzte Noth-
wendigkeit, das Gegentheil von diesen Sätzen zu glau-
ben, eben so groß sey. Evidenz der Sinne gegen Evi-
denz der Vernunft, hieße aber eine Evidenz unserer
Denkkraft gegen sich selbst. Wenn es unter der eben
erwähnten Bedingung alsdenn nur auf einige Art be-
greiflich gemacht würde, wie die genannten Philosophen
es zu machen versucht haben, daß die Nothwendigkeit,
mit der wir der Empfindung folgen, aus einer zufälli-
gen Jdeenassociation ihren Ursprung habe, so ließe sichs
schon dahin bringen, daß diese aus Gewohnheit verei-
nigte Jdeen auch in uns wiederum getrennet würden,
und es wäre eine wahre subjektivische Ueberzeugung von
ihrem System nicht nur möglich, sondern sie müßte ent-
stehen, wenn unsere Denkkraft in ihrem Fortgang des

Denkens
O o 4

der hoͤhern Kenntniſſe ⁊c.
Jch ziehe ein Perſpektiv mehr oder weniger heraus, bis
ich es ſo getroffen habe, daß ſich die Gegenſtaͤnde da-
durch am deutlichſten zeigen. Recht, da lerne ich durch
Proben und Erfahrungen. Aber der Mann, der die
Optik verſtehet, und die Focuslaͤnge der Glaͤſer kennet,
haͤtte mir es, ohne Proben zu machen, auf einmal ſa-
gen koͤnnen, wie weit ich die Roͤhre heraus zu ziehen
habe. Der Kurzſichtige nimmt den ſchon fuͤr andere
gut ſehende Augen zurecht geſtellten Tubus, will ihn nach
den ſeinigen richten, und probiert vielleicht eine lange
Zeit vergeblich, wenn er die Glaͤſer weiter von einander
ziehet. Der Theoriſt kann ihm auf einmal ſagen: er
muͤſſe ſie naͤher zuſammen ruͤcken.

Wenn Berkeley, Hume und Leibnitz es zur
Evidenz durch Schluͤſſe aus unlaͤugbaren Grundſaͤtzen
gebracht haͤtten, entweder, daß es keine materielle Welt
außer uns geben koͤnne, oder, daß der wirkliche Ein-
fluß der aͤußern Objekte auf die Seele, auf einen wah-
ren Widerſpruch fuͤhre; wenn ſie dieß evident gemacht
haͤtten, ſo wuͤßte ich ihnen meinen Beyfall nicht zu ver-
ſagen, es waͤre denn, daß die entgegengeſetzte Noth-
wendigkeit, das Gegentheil von dieſen Saͤtzen zu glau-
ben, eben ſo groß ſey. Evidenz der Sinne gegen Evi-
denz der Vernunft, hieße aber eine Evidenz unſerer
Denkkraft gegen ſich ſelbſt. Wenn es unter der eben
erwaͤhnten Bedingung alsdenn nur auf einige Art be-
greiflich gemacht wuͤrde, wie die genannten Philoſophen
es zu machen verſucht haben, daß die Nothwendigkeit,
mit der wir der Empfindung folgen, aus einer zufaͤlli-
gen Jdeenaſſociation ihren Urſprung habe, ſo ließe ſichs
ſchon dahin bringen, daß dieſe aus Gewohnheit verei-
nigte Jdeen auch in uns wiederum getrennet wuͤrden,
und es waͤre eine wahre ſubjektiviſche Ueberzeugung von
ihrem Syſtem nicht nur moͤglich, ſondern ſie muͤßte ent-
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O o 4
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[583/0643] der hoͤhern Kenntniſſe ⁊c. Jch ziehe ein Perſpektiv mehr oder weniger heraus, bis ich es ſo getroffen habe, daß ſich die Gegenſtaͤnde da- durch am deutlichſten zeigen. Recht, da lerne ich durch Proben und Erfahrungen. Aber der Mann, der die Optik verſtehet, und die Focuslaͤnge der Glaͤſer kennet, haͤtte mir es, ohne Proben zu machen, auf einmal ſa- gen koͤnnen, wie weit ich die Roͤhre heraus zu ziehen habe. Der Kurzſichtige nimmt den ſchon fuͤr andere gut ſehende Augen zurecht geſtellten Tubus, will ihn nach den ſeinigen richten, und probiert vielleicht eine lange Zeit vergeblich, wenn er die Glaͤſer weiter von einander ziehet. Der Theoriſt kann ihm auf einmal ſagen: er muͤſſe ſie naͤher zuſammen ruͤcken. Wenn Berkeley, Hume und Leibnitz es zur Evidenz durch Schluͤſſe aus unlaͤugbaren Grundſaͤtzen gebracht haͤtten, entweder, daß es keine materielle Welt außer uns geben koͤnne, oder, daß der wirkliche Ein- fluß der aͤußern Objekte auf die Seele, auf einen wah- ren Widerſpruch fuͤhre; wenn ſie dieß evident gemacht haͤtten, ſo wuͤßte ich ihnen meinen Beyfall nicht zu ver- ſagen, es waͤre denn, daß die entgegengeſetzte Noth- wendigkeit, das Gegentheil von dieſen Saͤtzen zu glau- ben, eben ſo groß ſey. Evidenz der Sinne gegen Evi- denz der Vernunft, hieße aber eine Evidenz unſerer Denkkraft gegen ſich ſelbſt. Wenn es unter der eben erwaͤhnten Bedingung alsdenn nur auf einige Art be- greiflich gemacht wuͤrde, wie die genannten Philoſophen es zu machen verſucht haben, daß die Nothwendigkeit, mit der wir der Empfindung folgen, aus einer zufaͤlli- gen Jdeenaſſociation ihren Urſprung habe, ſo ließe ſichs ſchon dahin bringen, daß dieſe aus Gewohnheit verei- nigte Jdeen auch in uns wiederum getrennet wuͤrden, und es waͤre eine wahre ſubjektiviſche Ueberzeugung von ihrem Syſtem nicht nur moͤglich, ſondern ſie muͤßte ent- ſtehen, wenn unſere Denkkraft in ihrem Fortgang des Denkens O o 4

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 583. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/643>, abgerufen am 24.11.2024.