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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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VIII. Versuch. Von der Beziehung
sich im Folgern und Schließen, und ist darinn etwas
mehr, als das Beziehungsvermögen, welches allein aus
der unmittelbaren Gegeneinanderstellung der Dinge ihre
Beziehungen erkennet. Daher bedienet sich die höhere
Vernunft gewisser Mittel, die man Ausschließungswei-
se als die ihrigen ansehen kann. Sie macht sich ein ge-
wisses Gewebe von nothwendigen Wahrheiten aus allge-
meinen Begriffen. Sie legt allgemeine Grundbegriffe
und Grundsätze hin, verbindet solche nach ihren nothwen-
digen Denkgesetzen, und findet dadurch die nothwen-
digen
Verhältnisse der Jdeen, die sie alsdenn den Ob-
jekten zuschreibet, wenn sie findet, daß dieser ihre Be-
schaffenheiten mit demjenigen einerley sind, was sie sich
unter ihren entwickelten Gemeinbegriffen schon vorgestel-
let hat. Zuweilen hat sie solche allgemeine Theorien
noch nicht zum Voraus verfertiget, aber alsdenn entwi-
ckelt sie doch die Begriffe von den ihr vorliegenden Ge-
genständen, setzt sie deutlich aus einander, verbindet und
vergleicht sie, und macht Folgerungen und Schlüsse aus
ihnen. Höhere Vernunft, oder raisonnirende Ver-
nunft,
oder Vernunft schlechthin ist also "das Ver-
"mögen, aus Einsicht des Zusammenhangs allgemei-
"ner Begriffe über die Dinge zu urtheilen."

Es kann nicht vergeblich wiederholet werden, daß
die allgemein Begriffe nichts als so viele einzelne
besondere
Seiten sind, an welchen die wirklichen Ge-
genstände betrachtet werden können. Sie sind gewisse
Aehnlichkeiten mehrerer Dinge. Wenn solche Ge-
meinbegriffe verbunden, verglichen, und ihre nothwen-
digen Verhältnisse erkannt werden, was hat man denn
anders, als eine gewisse Menge von Gedanken oder von
Verhältnissen der Dinge von diesen Seiten betrachtet?
Die allgemeine Theorien sind in der Seele eine Art von
neuen Gedankenreihen; so lange kein Objekt da ist, das
zu der allgemeinen Gattung von Dingen gehöret, die

durch

VIII. Verſuch. Von der Beziehung
ſich im Folgern und Schließen, und iſt darinn etwas
mehr, als das Beziehungsvermoͤgen, welches allein aus
der unmittelbaren Gegeneinanderſtellung der Dinge ihre
Beziehungen erkennet. Daher bedienet ſich die hoͤhere
Vernunft gewiſſer Mittel, die man Ausſchließungswei-
ſe als die ihrigen anſehen kann. Sie macht ſich ein ge-
wiſſes Gewebe von nothwendigen Wahrheiten aus allge-
meinen Begriffen. Sie legt allgemeine Grundbegriffe
und Grundſaͤtze hin, verbindet ſolche nach ihren nothwen-
digen Denkgeſetzen, und findet dadurch die nothwen-
digen
Verhaͤltniſſe der Jdeen, die ſie alsdenn den Ob-
jekten zuſchreibet, wenn ſie findet, daß dieſer ihre Be-
ſchaffenheiten mit demjenigen einerley ſind, was ſie ſich
unter ihren entwickelten Gemeinbegriffen ſchon vorgeſtel-
let hat. Zuweilen hat ſie ſolche allgemeine Theorien
noch nicht zum Voraus verfertiget, aber alsdenn entwi-
ckelt ſie doch die Begriffe von den ihr vorliegenden Ge-
genſtaͤnden, ſetzt ſie deutlich aus einander, verbindet und
vergleicht ſie, und macht Folgerungen und Schluͤſſe aus
ihnen. Hoͤhere Vernunft, oder raiſonnirende Ver-
nunft,
oder Vernunft ſchlechthin iſt alſo „das Ver-
„moͤgen, aus Einſicht des Zuſammenhangs allgemei-
„ner Begriffe uͤber die Dinge zu urtheilen.‟

Es kann nicht vergeblich wiederholet werden, daß
die allgemein Begriffe nichts als ſo viele einzelne
beſondere
Seiten ſind, an welchen die wirklichen Ge-
genſtaͤnde betrachtet werden koͤnnen. Sie ſind gewiſſe
Aehnlichkeiten mehrerer Dinge. Wenn ſolche Ge-
meinbegriffe verbunden, verglichen, und ihre nothwen-
digen Verhaͤltniſſe erkannt werden, was hat man denn
anders, als eine gewiſſe Menge von Gedanken oder von
Verhaͤltniſſen der Dinge von dieſen Seiten betrachtet?
Die allgemeine Theorien ſind in der Seele eine Art von
neuen Gedankenreihen; ſo lange kein Objekt da iſt, das
zu der allgemeinen Gattung von Dingen gehoͤret, die

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[572/0632] VIII. Verſuch. Von der Beziehung ſich im Folgern und Schließen, und iſt darinn etwas mehr, als das Beziehungsvermoͤgen, welches allein aus der unmittelbaren Gegeneinanderſtellung der Dinge ihre Beziehungen erkennet. Daher bedienet ſich die hoͤhere Vernunft gewiſſer Mittel, die man Ausſchließungswei- ſe als die ihrigen anſehen kann. Sie macht ſich ein ge- wiſſes Gewebe von nothwendigen Wahrheiten aus allge- meinen Begriffen. Sie legt allgemeine Grundbegriffe und Grundſaͤtze hin, verbindet ſolche nach ihren nothwen- digen Denkgeſetzen, und findet dadurch die nothwen- digen Verhaͤltniſſe der Jdeen, die ſie alsdenn den Ob- jekten zuſchreibet, wenn ſie findet, daß dieſer ihre Be- ſchaffenheiten mit demjenigen einerley ſind, was ſie ſich unter ihren entwickelten Gemeinbegriffen ſchon vorgeſtel- let hat. Zuweilen hat ſie ſolche allgemeine Theorien noch nicht zum Voraus verfertiget, aber alsdenn entwi- ckelt ſie doch die Begriffe von den ihr vorliegenden Ge- genſtaͤnden, ſetzt ſie deutlich aus einander, verbindet und vergleicht ſie, und macht Folgerungen und Schluͤſſe aus ihnen. Hoͤhere Vernunft, oder raiſonnirende Ver- nunft, oder Vernunft ſchlechthin iſt alſo „das Ver- „moͤgen, aus Einſicht des Zuſammenhangs allgemei- „ner Begriffe uͤber die Dinge zu urtheilen.‟ Es kann nicht vergeblich wiederholet werden, daß die allgemein Begriffe nichts als ſo viele einzelne beſondere Seiten ſind, an welchen die wirklichen Ge- genſtaͤnde betrachtet werden koͤnnen. Sie ſind gewiſſe Aehnlichkeiten mehrerer Dinge. Wenn ſolche Ge- meinbegriffe verbunden, verglichen, und ihre nothwen- digen Verhaͤltniſſe erkannt werden, was hat man denn anders, als eine gewiſſe Menge von Gedanken oder von Verhaͤltniſſen der Dinge von dieſen Seiten betrachtet? Die allgemeine Theorien ſind in der Seele eine Art von neuen Gedankenreihen; ſo lange kein Objekt da iſt, das zu der allgemeinen Gattung von Dingen gehoͤret, die durch

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 572. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/632>, abgerufen am 22.12.2024.