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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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VII. Versuch. Von der Rothwendigkeit
auf, daß wir gewiß versichert sind, es werde auch an-
dern ähnlich zu seyn scheinen, was uns so scheinet, wenn
wir unter denselbigen Umständen von dem Einen eben so
afficiret werden, als von dem andern. Die Rührung
mag bey einem eine ganz andere Modifikation seyn, als
bey dem andern, warum aber findet nicht der Eine zwo
Eindrücke eben so wohl einander ähnlich in Hinsicht die-
ser Affektion, als in Hinsicht ihrer physischen Beschaffen-
heiten, z. B. daß sie süße oder sauer sind? Warum
soll hier die Parallel zwischen Schönheit und Wahrheit
abgeschnitten werden?

Meiner Meinung nach muß man so darauf antwor-
ten, wie ich vorher gethan habe. Man kann sonsten
noch mehreres anführen. Der Körper, der roth ist, re-
flektiert in der That auch Lichtstrahlen von andern Far-
ben, und die rothen sind nur die vorzüglichsten. Er kann
also auch mit einer andern Farbe gesehen werden, wenn
das Auge unfähig gemacht wird, die rothen anzuneh-
men.*) Eben so sind die Dinge die meistenmale nur
angenehm oder unangenehm, weil diese Beschaffenhei-
ten das Ueberwiegende in ihnen sind, nicht weil die ent-
gegengesetzten ihnen gänzlich fehlen. Das Angenehme
und Unangenehme sind also immer nur gewisse Seiten
der Gegenstände, deren Verhältniß nicht das Verhält-
niß der Dinge selbst ist, wie ich schon oben erinnert habe.
Aber wenn man diese Antwort verfolget, so wird man
doch gestehen müssen, es bleibe am Ende die Frage übrig:
"Wie Eindrücke von einerley Objekten in diesem Sub-
"jekt sich ähnlich, und in einem andern verschieden seyn
"können, wenn man in der Verschiedenheit der äußern
"Umstände den Grund dazu nicht finden kann?" Es
sind alsdenn die innern Umstände verschieden. Und daß
es so bey unsern Affektionen sey, wissen wir überhaupt

recht
*) Erster Versuch XV. 3.

VII. Verſuch. Von der Rothwendigkeit
auf, daß wir gewiß verſichert ſind, es werde auch an-
dern aͤhnlich zu ſeyn ſcheinen, was uns ſo ſcheinet, wenn
wir unter denſelbigen Umſtaͤnden von dem Einen eben ſo
afficiret werden, als von dem andern. Die Ruͤhrung
mag bey einem eine ganz andere Modifikation ſeyn, als
bey dem andern, warum aber findet nicht der Eine zwo
Eindruͤcke eben ſo wohl einander aͤhnlich in Hinſicht die-
ſer Affektion, als in Hinſicht ihrer phyſiſchen Beſchaffen-
heiten, z. B. daß ſie ſuͤße oder ſauer ſind? Warum
ſoll hier die Parallel zwiſchen Schoͤnheit und Wahrheit
abgeſchnitten werden?

Meiner Meinung nach muß man ſo darauf antwor-
ten, wie ich vorher gethan habe. Man kann ſonſten
noch mehreres anfuͤhren. Der Koͤrper, der roth iſt, re-
flektiert in der That auch Lichtſtrahlen von andern Far-
ben, und die rothen ſind nur die vorzuͤglichſten. Er kann
alſo auch mit einer andern Farbe geſehen werden, wenn
das Auge unfaͤhig gemacht wird, die rothen anzuneh-
men.*) Eben ſo ſind die Dinge die meiſtenmale nur
angenehm oder unangenehm, weil dieſe Beſchaffenhei-
ten das Ueberwiegende in ihnen ſind, nicht weil die ent-
gegengeſetzten ihnen gaͤnzlich fehlen. Das Angenehme
und Unangenehme ſind alſo immer nur gewiſſe Seiten
der Gegenſtaͤnde, deren Verhaͤltniß nicht das Verhaͤlt-
niß der Dinge ſelbſt iſt, wie ich ſchon oben erinnert habe.
Aber wenn man dieſe Antwort verfolget, ſo wird man
doch geſtehen muͤſſen, es bleibe am Ende die Frage uͤbrig:
„Wie Eindruͤcke von einerley Objekten in dieſem Sub-
„jekt ſich aͤhnlich, und in einem andern verſchieden ſeyn
„koͤnnen, wenn man in der Verſchiedenheit der aͤußern
„Umſtaͤnde den Grund dazu nicht finden kann?‟ Es
ſind alsdenn die innern Umſtaͤnde verſchieden. Und daß
es ſo bey unſern Affektionen ſey, wiſſen wir uͤberhaupt

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*) Erſter Verſuch XV. 3.
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[558/0618] VII. Verſuch. Von der Rothwendigkeit auf, daß wir gewiß verſichert ſind, es werde auch an- dern aͤhnlich zu ſeyn ſcheinen, was uns ſo ſcheinet, wenn wir unter denſelbigen Umſtaͤnden von dem Einen eben ſo afficiret werden, als von dem andern. Die Ruͤhrung mag bey einem eine ganz andere Modifikation ſeyn, als bey dem andern, warum aber findet nicht der Eine zwo Eindruͤcke eben ſo wohl einander aͤhnlich in Hinſicht die- ſer Affektion, als in Hinſicht ihrer phyſiſchen Beſchaffen- heiten, z. B. daß ſie ſuͤße oder ſauer ſind? Warum ſoll hier die Parallel zwiſchen Schoͤnheit und Wahrheit abgeſchnitten werden? Meiner Meinung nach muß man ſo darauf antwor- ten, wie ich vorher gethan habe. Man kann ſonſten noch mehreres anfuͤhren. Der Koͤrper, der roth iſt, re- flektiert in der That auch Lichtſtrahlen von andern Far- ben, und die rothen ſind nur die vorzuͤglichſten. Er kann alſo auch mit einer andern Farbe geſehen werden, wenn das Auge unfaͤhig gemacht wird, die rothen anzuneh- men. *) Eben ſo ſind die Dinge die meiſtenmale nur angenehm oder unangenehm, weil dieſe Beſchaffenhei- ten das Ueberwiegende in ihnen ſind, nicht weil die ent- gegengeſetzten ihnen gaͤnzlich fehlen. Das Angenehme und Unangenehme ſind alſo immer nur gewiſſe Seiten der Gegenſtaͤnde, deren Verhaͤltniß nicht das Verhaͤlt- niß der Dinge ſelbſt iſt, wie ich ſchon oben erinnert habe. Aber wenn man dieſe Antwort verfolget, ſo wird man doch geſtehen muͤſſen, es bleibe am Ende die Frage uͤbrig: „Wie Eindruͤcke von einerley Objekten in dieſem Sub- „jekt ſich aͤhnlich, und in einem andern verſchieden ſeyn „koͤnnen, wenn man in der Verſchiedenheit der aͤußern „Umſtaͤnde den Grund dazu nicht finden kann?‟ Es ſind alsdenn die innern Umſtaͤnde verſchieden. Und daß es ſo bey unſern Affektionen ſey, wiſſen wir uͤberhaupt recht *) Erſter Verſuch XV. 3.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 558. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/618>, abgerufen am 22.12.2024.