Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der allgem. Vernunftwahrheiten, etc.
me angenommen werden müssen, wird es dieselbige Be-
schaffenheit haben.

Es sind eigentlich drey verschiedene Sätze, die bey
dem Grundgesetz des Widerspruchs zusammen kommen.

Erstlich. Jch kann keinen viereckten Zirkel mir vor-
stellen noch gedenken; oder, wenn wir den allgemeinsten
Ausdruck aller widersprechenden Gedanken gebrauchen
wollen, ich kann diesen Gedanken: A ist nicht A, nicht
gedenken. Dieß ist ein Erfahrungssatz.

Zweytens. Ein viereckter Zirkel, oder überhaupt
der Satz, A ist nicht A, ist gar nicht gedenkbar,
ohne alle Einschränkung, und kann von keiner Denk-
kraft vorgestellet und gedacht werden. Dieß ist weder
ein Erfahrungssatz, noch ein Schlußsatz; es ist ein ange-
nommenes Axiom.

Endlich drittens. Ein solches ungedenkbares, oder
widersprechendes Ding ist kein wirkliches Objekt, ist
keine fühlbare Sache, und kann es auch nicht seyn noch
werden. Es ist objektivisch unmöglich. Dieser letzte
Ausspruch ist eigentlich der metaphysische Grundsatz, und
ist wiederum weder ein Erfahrungssatz noch ein Schluß-
satz, sondern ein angenommenes Axiom.

Kein Mensch, der es weis, was er denket, kann
sichs je überreden, daß er eine Jdee von einem viereck-
ten Zirkel habe. So weit kann auch die ausgelassenste
Zweifelsucht nicht gehen. Aber kann man vielleicht bey
den beyden letztern Sätzen Anstand nehmen? Als eini-
ge sonderbare Leute am Ende des sechszehnten und im
Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts zu Helmstädt ge-
gen die Vernunft schrieen, und behaupteten, auch wah-
re Widersprüche müßten für Wahrheiten von uns ange-
nommen werden, wenn sie in der Bibel entdecket wären,
war dieses vielleicht was sie im Sinn hatten. "Die
Ungedenkbarkeit eines viereckten Zirkels sey nur eine
subjektivische Unmöglichkeit bey dem Menschenver-

stande,

der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
me angenommen werden muͤſſen, wird es dieſelbige Be-
ſchaffenheit haben.

Es ſind eigentlich drey verſchiedene Saͤtze, die bey
dem Grundgeſetz des Widerſpruchs zuſammen kommen.

Erſtlich. Jch kann keinen viereckten Zirkel mir vor-
ſtellen noch gedenken; oder, wenn wir den allgemeinſten
Ausdruck aller widerſprechenden Gedanken gebrauchen
wollen, ich kann dieſen Gedanken: A iſt nicht A, nicht
gedenken. Dieß iſt ein Erfahrungsſatz.

Zweytens. Ein viereckter Zirkel, oder uͤberhaupt
der Satz, A iſt nicht A, iſt gar nicht gedenkbar,
ohne alle Einſchraͤnkung, und kann von keiner Denk-
kraft vorgeſtellet und gedacht werden. Dieß iſt weder
ein Erfahrungsſatz, noch ein Schlußſatz; es iſt ein ange-
nommenes Axiom.

Endlich drittens. Ein ſolches ungedenkbares, oder
widerſprechendes Ding iſt kein wirkliches Objekt, iſt
keine fuͤhlbare Sache, und kann es auch nicht ſeyn noch
werden. Es iſt objektiviſch unmoͤglich. Dieſer letzte
Ausſpruch iſt eigentlich der metaphyſiſche Grundſatz, und
iſt wiederum weder ein Erfahrungsſatz noch ein Schluß-
ſatz, ſondern ein angenommenes Axiom.

Kein Menſch, der es weis, was er denket, kann
ſichs je uͤberreden, daß er eine Jdee von einem viereck-
ten Zirkel habe. So weit kann auch die ausgelaſſenſte
Zweifelſucht nicht gehen. Aber kann man vielleicht bey
den beyden letztern Saͤtzen Anſtand nehmen? Als eini-
ge ſonderbare Leute am Ende des ſechszehnten und im
Anfang des ſiebenzehnten Jahrhunderts zu Helmſtaͤdt ge-
gen die Vernunft ſchrieen, und behaupteten, auch wah-
re Widerſpruͤche muͤßten fuͤr Wahrheiten von uns ange-
nommen werden, wenn ſie in der Bibel entdecket waͤren,
war dieſes vielleicht was ſie im Sinn hatten. „Die
Ungedenkbarkeit eines viereckten Zirkels ſey nur eine
ſubjektiviſche Unmoͤglichkeit bey dem Menſchenver-

ſtande,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0601" n="541"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der allgem. Vernunftwahrheiten, &#x204A;c.</hi></fw><lb/>
me angenommen werden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, wird es die&#x017F;elbige Be-<lb/>
&#x017F;chaffenheit haben.</p><lb/>
            <p>Es &#x017F;ind eigentlich drey ver&#x017F;chiedene Sa&#x0364;tze, die bey<lb/>
dem Grundge&#x017F;etz des Wider&#x017F;pruchs zu&#x017F;ammen kommen.</p><lb/>
            <p>Er&#x017F;tlich. Jch kann keinen viereckten Zirkel mir vor-<lb/>
&#x017F;tellen noch gedenken; oder, wenn wir den allgemein&#x017F;ten<lb/>
Ausdruck aller wider&#x017F;prechenden Gedanken gebrauchen<lb/>
wollen, ich kann die&#x017F;en Gedanken: <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">A</hi></hi> <hi rendition="#fr">i&#x017F;t nicht</hi> <hi rendition="#aq"><hi rendition="#i">A</hi>,</hi> nicht<lb/>
gedenken. Dieß i&#x017F;t ein Erfahrungs&#x017F;atz.</p><lb/>
            <p>Zweytens. Ein viereckter Zirkel, oder u&#x0364;berhaupt<lb/>
der Satz, <hi rendition="#aq">A</hi> i&#x017F;t nicht <hi rendition="#aq">A,</hi> <hi rendition="#fr">i&#x017F;t gar nicht gedenkbar,</hi><lb/>
ohne alle Ein&#x017F;chra&#x0364;nkung, und kann von keiner Denk-<lb/>
kraft vorge&#x017F;tellet und gedacht werden. Dieß i&#x017F;t weder<lb/>
ein Erfahrungs&#x017F;atz, noch ein Schluß&#x017F;atz; es i&#x017F;t ein ange-<lb/>
nommenes Axiom.</p><lb/>
            <p>Endlich drittens. Ein &#x017F;olches ungedenkbares, oder<lb/>
wider&#x017F;prechendes Ding i&#x017F;t kein <hi rendition="#fr">wirkliches Objekt,</hi> i&#x017F;t<lb/>
keine fu&#x0364;hlbare Sache, und kann es auch nicht &#x017F;eyn noch<lb/>
werden. Es i&#x017F;t objektivi&#x017F;ch unmo&#x0364;glich. Die&#x017F;er letzte<lb/>
Aus&#x017F;pruch i&#x017F;t eigentlich der metaphy&#x017F;i&#x017F;che Grund&#x017F;atz, und<lb/>
i&#x017F;t wiederum weder ein Erfahrungs&#x017F;atz noch ein Schluß-<lb/>
&#x017F;atz, &#x017F;ondern ein angenommenes Axiom.</p><lb/>
            <p>Kein Men&#x017F;ch, der es weis, was er denket, kann<lb/>
&#x017F;ichs je u&#x0364;berreden, daß er eine Jdee von einem viereck-<lb/>
ten Zirkel habe. So weit kann auch die ausgela&#x017F;&#x017F;en&#x017F;te<lb/>
Zweifel&#x017F;ucht nicht gehen. Aber kann man vielleicht bey<lb/>
den beyden letztern Sa&#x0364;tzen An&#x017F;tand nehmen? Als eini-<lb/>
ge &#x017F;onderbare Leute am Ende des &#x017F;echszehnten und im<lb/>
Anfang des &#x017F;iebenzehnten Jahrhunderts zu Helm&#x017F;ta&#x0364;dt ge-<lb/>
gen die Vernunft &#x017F;chrieen, und behaupteten, auch wah-<lb/>
re Wider&#x017F;pru&#x0364;che mu&#x0364;ßten fu&#x0364;r Wahrheiten von uns ange-<lb/>
nommen werden, wenn &#x017F;ie in der Bibel entdecket wa&#x0364;ren,<lb/>
war die&#x017F;es vielleicht was &#x017F;ie im Sinn hatten. &#x201E;Die<lb/>
Ungedenkbarkeit eines viereckten Zirkels &#x017F;ey <hi rendition="#fr">nur</hi> eine<lb/><hi rendition="#fr">&#x017F;ubjektivi&#x017F;che Unmo&#x0364;glichkeit</hi> bey dem Men&#x017F;chenver-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;tande,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[541/0601] der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c. me angenommen werden muͤſſen, wird es dieſelbige Be- ſchaffenheit haben. Es ſind eigentlich drey verſchiedene Saͤtze, die bey dem Grundgeſetz des Widerſpruchs zuſammen kommen. Erſtlich. Jch kann keinen viereckten Zirkel mir vor- ſtellen noch gedenken; oder, wenn wir den allgemeinſten Ausdruck aller widerſprechenden Gedanken gebrauchen wollen, ich kann dieſen Gedanken: A iſt nicht A, nicht gedenken. Dieß iſt ein Erfahrungsſatz. Zweytens. Ein viereckter Zirkel, oder uͤberhaupt der Satz, A iſt nicht A, iſt gar nicht gedenkbar, ohne alle Einſchraͤnkung, und kann von keiner Denk- kraft vorgeſtellet und gedacht werden. Dieß iſt weder ein Erfahrungsſatz, noch ein Schlußſatz; es iſt ein ange- nommenes Axiom. Endlich drittens. Ein ſolches ungedenkbares, oder widerſprechendes Ding iſt kein wirkliches Objekt, iſt keine fuͤhlbare Sache, und kann es auch nicht ſeyn noch werden. Es iſt objektiviſch unmoͤglich. Dieſer letzte Ausſpruch iſt eigentlich der metaphyſiſche Grundſatz, und iſt wiederum weder ein Erfahrungsſatz noch ein Schluß- ſatz, ſondern ein angenommenes Axiom. Kein Menſch, der es weis, was er denket, kann ſichs je uͤberreden, daß er eine Jdee von einem viereck- ten Zirkel habe. So weit kann auch die ausgelaſſenſte Zweifelſucht nicht gehen. Aber kann man vielleicht bey den beyden letztern Saͤtzen Anſtand nehmen? Als eini- ge ſonderbare Leute am Ende des ſechszehnten und im Anfang des ſiebenzehnten Jahrhunderts zu Helmſtaͤdt ge- gen die Vernunft ſchrieen, und behaupteten, auch wah- re Widerſpruͤche muͤßten fuͤr Wahrheiten von uns ange- nommen werden, wenn ſie in der Bibel entdecket waͤren, war dieſes vielleicht was ſie im Sinn hatten. „Die Ungedenkbarkeit eines viereckten Zirkels ſey nur eine ſubjektiviſche Unmoͤglichkeit bey dem Menſchenver- ſtande,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/601
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 541. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/601>, abgerufen am 22.12.2024.