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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der allgem. Vernunftwahrheiten, etc.
sie überhaupt nur eine Wahrscheinlichkeit genennet
werden, so giebt es auch Wahrscheinlichkeiten, die der
völligsten Gewißheit so nahe kommen, daß der Theil,
der ihnen noch fehlet, wegen seiner Geringfügigkeit, als
ein unendlich kleines angesehen werden kann. Es giebt
unendlich große Wahrscheinlichkeiten, ob sie gleich
nach der Theorie nicht gänzlich der Gewißheit gleich sind,
und diese verdienen eine vorzügliche Erwägung. Andere
sind von einem mindern Grade, und machen doch schon
eine moralische Gewißheit aus.

Alsdenn fehlt noch das dritte, wenn man widerle-
gen will. Es muß der Ungrund des skeptischen Vor-
wandes, als führe uns das natürliche Verfahren des ge-
meinen Verstandes auf Widersprüche/ mit sich selbst und
mit der raisonnirenden Vernunft völlig ins Licht gesetzet
werden. Weiter kann man mit dem Zweifler nichts an-
fangen; aber es ist auch nichts mehr nöthig, wenn der
Zweifler ein nachdenkender Mann ist.

Dagegen wenn man auf die Art zu Werke geht, wie
Reid, Beattie und Oswald; nur unbedingt und
gerade als ein Princip es annimmt, es sey ein untrieg-
licher Charakter der Wahrheit, daß der Menschenver-
stand sich die Sachen so und nicht anders denke, oder den-
ken könne; wenn der Ausspruch der entwickelnden und
schließenden Vernunft nicht geachtet, und ihr so gar ihr
Stimmrecht bey der Beurtheilung von Wahrheit, Vor-
urtheil und Jrrthum, entzogen wird; wie kann der den-
kende Zweifler auf die Art überzeugt werden? Jst es
zu hart zu sagen, daß dieß Verfahren wider den Men-
schenverstand ist?

IV. Von
I. Band. L l

der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
ſie uͤberhaupt nur eine Wahrſcheinlichkeit genennet
werden, ſo giebt es auch Wahrſcheinlichkeiten, die der
voͤlligſten Gewißheit ſo nahe kommen, daß der Theil,
der ihnen noch fehlet, wegen ſeiner Geringfuͤgigkeit, als
ein unendlich kleines angeſehen werden kann. Es giebt
unendlich große Wahrſcheinlichkeiten, ob ſie gleich
nach der Theorie nicht gaͤnzlich der Gewißheit gleich ſind,
und dieſe verdienen eine vorzuͤgliche Erwaͤgung. Andere
ſind von einem mindern Grade, und machen doch ſchon
eine moraliſche Gewißheit aus.

Alsdenn fehlt noch das dritte, wenn man widerle-
gen will. Es muß der Ungrund des ſkeptiſchen Vor-
wandes, als fuͤhre uns das natuͤrliche Verfahren des ge-
meinen Verſtandes auf Widerſpruͤche/ mit ſich ſelbſt und
mit der raiſonnirenden Vernunft voͤllig ins Licht geſetzet
werden. Weiter kann man mit dem Zweifler nichts an-
fangen; aber es iſt auch nichts mehr noͤthig, wenn der
Zweifler ein nachdenkender Mann iſt.

Dagegen wenn man auf die Art zu Werke geht, wie
Reid, Beattie und Oswald; nur unbedingt und
gerade als ein Princip es annimmt, es ſey ein untrieg-
licher Charakter der Wahrheit, daß der Menſchenver-
ſtand ſich die Sachen ſo und nicht anders denke, oder den-
ken koͤnne; wenn der Ausſpruch der entwickelnden und
ſchließenden Vernunft nicht geachtet, und ihr ſo gar ihr
Stimmrecht bey der Beurtheilung von Wahrheit, Vor-
urtheil und Jrrthum, entzogen wird; wie kann der den-
kende Zweifler auf die Art uͤberzeugt werden? Jſt es
zu hart zu ſagen, daß dieß Verfahren wider den Men-
ſchenverſtand iſt?

IV. Von
I. Band. L l
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[529/0589] der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c. ſie uͤberhaupt nur eine Wahrſcheinlichkeit genennet werden, ſo giebt es auch Wahrſcheinlichkeiten, die der voͤlligſten Gewißheit ſo nahe kommen, daß der Theil, der ihnen noch fehlet, wegen ſeiner Geringfuͤgigkeit, als ein unendlich kleines angeſehen werden kann. Es giebt unendlich große Wahrſcheinlichkeiten, ob ſie gleich nach der Theorie nicht gaͤnzlich der Gewißheit gleich ſind, und dieſe verdienen eine vorzuͤgliche Erwaͤgung. Andere ſind von einem mindern Grade, und machen doch ſchon eine moraliſche Gewißheit aus. Alsdenn fehlt noch das dritte, wenn man widerle- gen will. Es muß der Ungrund des ſkeptiſchen Vor- wandes, als fuͤhre uns das natuͤrliche Verfahren des ge- meinen Verſtandes auf Widerſpruͤche/ mit ſich ſelbſt und mit der raiſonnirenden Vernunft voͤllig ins Licht geſetzet werden. Weiter kann man mit dem Zweifler nichts an- fangen; aber es iſt auch nichts mehr noͤthig, wenn der Zweifler ein nachdenkender Mann iſt. Dagegen wenn man auf die Art zu Werke geht, wie Reid, Beattie und Oswald; nur unbedingt und gerade als ein Princip es annimmt, es ſey ein untrieg- licher Charakter der Wahrheit, daß der Menſchenver- ſtand ſich die Sachen ſo und nicht anders denke, oder den- ken koͤnne; wenn der Ausſpruch der entwickelnden und ſchließenden Vernunft nicht geachtet, und ihr ſo gar ihr Stimmrecht bey der Beurtheilung von Wahrheit, Vor- urtheil und Jrrthum, entzogen wird; wie kann der den- kende Zweifler auf die Art uͤberzeugt werden? Jſt es zu hart zu ſagen, daß dieß Verfahren wider den Men- ſchenverſtand iſt? IV. Von I. Band. L l

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 529. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/589>, abgerufen am 21.11.2024.