nen Dinges den Gedanken zu verbinden, daß noch et- was anders vorher gewesen seyn müsse, wodurch es her- vorgebracht werde, oder hervorgebracht worden sey. Dem Einfältigen, dem Mann von schwachem Mutter- witz wird es leichter gelingen, die Gedanken zu verbin- den, "es entstehe etwas," und "es habe keine Ursache," als dem Nachdenkenden, dessen Verstand es gewohnt ist, sich nach einer Ursache umzusehen. Kinder und Wilde lassen sich die ungereimtesten Lügen erzählen und nehmen sie mit Verwunderung und Erstaunen auf, ohne daß es ihnen einfällt, zu fragen, wie und auf welche Art das zugehe oder zugegangen sey?
Es scheinet, die Sache von dieser Seite betrachtet, die subjektivische Nothwendigkeit in dem Princip: Nichts ohne Ursache, sey nur bedingt und einge- schränkt, weil die Denkkraft von diesem Gesetz des Den- kens abweichen kann, und zuweilen wirklich davon ab- zuweichen scheinet. Allein man sehe die vermeinten Ab- weichungen genauer an, und es wird sich bald zeigen, daß sie wirklich keine sind. Der Dummkopf denket nicht weiter, als auf die ihm vorliegende Jdee von dem werdenden Ding; seine Reflexion ist mit der Ergrei- fung dieser Jdee schon genug beschäftiget, und endiget dabey ihre ganze Wirksamkeit. Er denket also gar nicht an eine Ursache, und läugnet sie eben so wenig ab, als er sie behauptet. Was er erlanget, ist eine Jdee von den Dingen, die geworden sind, aber er stellt sich solche nicht als gewordene Dinge vor. Man mache den Versuch, sich entstandene Dinge als entstandene, ohne Ursa- che vorzustellen, so wird das innere Selbstgefühl es sa- gen, daß mit der Jdee des Entstehens und des Wer- dens die Jdee von einer hervorbringenden Ursache so innig verbunden sey, daß man dem Naturtrieb der Re- flexion, die zu den Gedanken von einer vorhandenen Ur- fache übergehet, mit Gewalt widerstehen, und zu dem
Ende
VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
nen Dinges den Gedanken zu verbinden, daß noch et- was anders vorher geweſen ſeyn muͤſſe, wodurch es her- vorgebracht werde, oder hervorgebracht worden ſey. Dem Einfaͤltigen, dem Mann von ſchwachem Mutter- witz wird es leichter gelingen, die Gedanken zu verbin- den, „es entſtehe etwas,‟ und „es habe keine Urſache,‟ als dem Nachdenkenden, deſſen Verſtand es gewohnt iſt, ſich nach einer Urſache umzuſehen. Kinder und Wilde laſſen ſich die ungereimteſten Luͤgen erzaͤhlen und nehmen ſie mit Verwunderung und Erſtaunen auf, ohne daß es ihnen einfaͤllt, zu fragen, wie und auf welche Art das zugehe oder zugegangen ſey?
Es ſcheinet, die Sache von dieſer Seite betrachtet, die ſubjektiviſche Nothwendigkeit in dem Princip: Nichts ohne Urſache, ſey nur bedingt und einge- ſchraͤnkt, weil die Denkkraft von dieſem Geſetz des Den- kens abweichen kann, und zuweilen wirklich davon ab- zuweichen ſcheinet. Allein man ſehe die vermeinten Ab- weichungen genauer an, und es wird ſich bald zeigen, daß ſie wirklich keine ſind. Der Dummkopf denket nicht weiter, als auf die ihm vorliegende Jdee von dem werdenden Ding; ſeine Reflexion iſt mit der Ergrei- fung dieſer Jdee ſchon genug beſchaͤftiget, und endiget dabey ihre ganze Wirkſamkeit. Er denket alſo gar nicht an eine Urſache, und laͤugnet ſie eben ſo wenig ab, als er ſie behauptet. Was er erlanget, iſt eine Jdee von den Dingen, die geworden ſind, aber er ſtellt ſich ſolche nicht als gewordene Dinge vor. Man mache den Verſuch, ſich entſtandene Dinge als entſtandene, ohne Urſa- che vorzuſtellen, ſo wird das innere Selbſtgefuͤhl es ſa- gen, daß mit der Jdee des Entſtehens und des Wer- dens die Jdee von einer hervorbringenden Urſache ſo innig verbunden ſey, daß man dem Naturtrieb der Re- flexion, die zu den Gedanken von einer vorhandenen Ur- fache uͤbergehet, mit Gewalt widerſtehen, und zu dem
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VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
nen Dinges den Gedanken zu verbinden, daß noch et-
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vorgebracht werde, oder hervorgebracht worden ſey.
Dem Einfaͤltigen, dem Mann von ſchwachem Mutter-
witz wird es leichter gelingen, die Gedanken zu verbin-
den, „es entſtehe etwas,‟ und „es habe keine Urſache,‟
als dem Nachdenkenden, deſſen Verſtand es gewohnt iſt,
ſich nach einer Urſache umzuſehen. Kinder und Wilde
laſſen ſich die ungereimteſten Luͤgen erzaͤhlen und nehmen
ſie mit Verwunderung und Erſtaunen auf, ohne daß es
ihnen einfaͤllt, zu fragen, wie und auf welche Art das
zugehe oder zugegangen ſey?
Es ſcheinet, die Sache von dieſer Seite betrachtet,
die ſubjektiviſche Nothwendigkeit in dem Princip:
Nichts ohne Urſache, ſey nur bedingt und einge-
ſchraͤnkt, weil die Denkkraft von dieſem Geſetz des Den-
kens abweichen kann, und zuweilen wirklich davon ab-
zuweichen ſcheinet. Allein man ſehe die vermeinten Ab-
weichungen genauer an, und es wird ſich bald zeigen,
daß ſie wirklich keine ſind. Der Dummkopf denket
nicht weiter, als auf die ihm vorliegende Jdee von dem
werdenden Ding; ſeine Reflexion iſt mit der Ergrei-
fung dieſer Jdee ſchon genug beſchaͤftiget, und endiget
dabey ihre ganze Wirkſamkeit. Er denket alſo gar nicht
an eine Urſache, und laͤugnet ſie eben ſo wenig ab, als er
ſie behauptet. Was er erlanget, iſt eine Jdee von den
Dingen, die geworden ſind, aber er ſtellt ſich ſolche nicht
als gewordene Dinge vor. Man mache den Verſuch,
ſich entſtandene Dinge als entſtandene, ohne Urſa-
che vorzuſtellen, ſo wird das innere Selbſtgefuͤhl es ſa-
gen, daß mit der Jdee des Entſtehens und des Wer-
dens die Jdee von einer hervorbringenden Urſache ſo
innig verbunden ſey, daß man dem Naturtrieb der Re-
flexion, die zu den Gedanken von einer vorhandenen Ur-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 502. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/562>, abgerufen am 21.11.2024.
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