Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der allgem. Vernunftwahrheiten, etc.
solches durch die Natur der Denkkraft, und in Gemäß-
heit der Vorstellungen erfolget, so mußte schon vorher
eine Denkthätigkeit von selbst und unwillkührlich vorhan-
den gewesen seyn. Wir müßten vorher schon auf eine
ähnliche Art geurtheilet, diesen Aktus empfunden, und
eine Vorstellung davon in uns aufbehalten haben.

Daraus ist es eine natürliche Folge, daß wir auch
in dem Fall, wo wir über Jdeen schon unterschiedener
Vorstellungen urtheilen, dennoch das erste mal, wenn
wir ihre Verhältnisse denken, sie unwillkührlich und noth-
wendig auf die Art denken, als wir es thun. Die er-
sten Urtheile des gemeinen Verstandes,
daß es
Körper außer uns gebe, daß die Seele in den Körper
wirke; die ersten Raisonnements über die Gestalt des
Himmels, und viele andere Grundsätze sind Wirkungen
der Natur, die der Jdealist, der Harmonist und der
Astronom schon in seinem Kopf antrift, ehe er durch Fleiß
und wiederholtes Bestreben es sich möglich machet, sie
umzuschaffen. Und eine solche Umänderung jener Ur-
theile, ist, dieselbigen Vorstellungen nemlich von den
Subjekten und Prädikaten unverändert vorausgesetzt,
nicht ehe in seiner Gewalt, als bis er mit vielen Vorstel-
lungen und Jdeen von diesen Denkhandlungen und von
ihren entgegenstehenden versehen ist.

Aber wie bekommt er es denn in seiner Gewalt, die-
se Urtheile umzuändern und in wie weit? Wenn man
schon so oft mit den Empfindungsvorstellungen von der
Sonne und Mond den Gedanken verbunden hat, daß
beide von gleicher Größe sind; wenn es schon mehrma-
len gedacht worden ist, daß der Tisch, den ich anfühle,
ein existirendes Ding außer mir ist, so muß die Gewohn-
heit so einen Gedanken mit den Vorstellungen oder Jdeen
zu verbinden, die erste natürliche Verbindung verstärket,
und fast unauflöslich gemacht haben. Durch welche
Mittel kann also nachher die Reflexionsäußerung von den

gegen-

der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c.
ſolches durch die Natur der Denkkraft, und in Gemaͤß-
heit der Vorſtellungen erfolget, ſo mußte ſchon vorher
eine Denkthaͤtigkeit von ſelbſt und unwillkuͤhrlich vorhan-
den geweſen ſeyn. Wir muͤßten vorher ſchon auf eine
aͤhnliche Art geurtheilet, dieſen Aktus empfunden, und
eine Vorſtellung davon in uns aufbehalten haben.

Daraus iſt es eine natuͤrliche Folge, daß wir auch
in dem Fall, wo wir uͤber Jdeen ſchon unterſchiedener
Vorſtellungen urtheilen, dennoch das erſte mal, wenn
wir ihre Verhaͤltniſſe denken, ſie unwillkuͤhrlich und noth-
wendig auf die Art denken, als wir es thun. Die er-
ſten Urtheile des gemeinen Verſtandes,
daß es
Koͤrper außer uns gebe, daß die Seele in den Koͤrper
wirke; die erſten Raiſonnements uͤber die Geſtalt des
Himmels, und viele andere Grundſaͤtze ſind Wirkungen
der Natur, die der Jdealiſt, der Harmoniſt und der
Aſtronom ſchon in ſeinem Kopf antrift, ehe er durch Fleiß
und wiederholtes Beſtreben es ſich moͤglich machet, ſie
umzuſchaffen. Und eine ſolche Umaͤnderung jener Ur-
theile, iſt, dieſelbigen Vorſtellungen nemlich von den
Subjekten und Praͤdikaten unveraͤndert vorausgeſetzt,
nicht ehe in ſeiner Gewalt, als bis er mit vielen Vorſtel-
lungen und Jdeen von dieſen Denkhandlungen und von
ihren entgegenſtehenden verſehen iſt.

Aber wie bekommt er es denn in ſeiner Gewalt, die-
ſe Urtheile umzuaͤndern und in wie weit? Wenn man
ſchon ſo oft mit den Empfindungsvorſtellungen von der
Sonne und Mond den Gedanken verbunden hat, daß
beide von gleicher Groͤße ſind; wenn es ſchon mehrma-
len gedacht worden iſt, daß der Tiſch, den ich anfuͤhle,
ein exiſtirendes Ding außer mir iſt, ſo muß die Gewohn-
heit ſo einen Gedanken mit den Vorſtellungen oder Jdeen
zu verbinden, die erſte natuͤrliche Verbindung verſtaͤrket,
und faſt unaufloͤslich gemacht haben. Durch welche
Mittel kann alſo nachher die Reflexionsaͤußerung von den

gegen-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0537" n="477"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der allgem. Vernunftwahrheiten, &#x204A;c.</hi></fw><lb/>
&#x017F;olches durch die Natur der Denkkraft, und in Gema&#x0364;ß-<lb/>
heit der Vor&#x017F;tellungen erfolget, &#x017F;o mußte &#x017F;chon vorher<lb/>
eine Denktha&#x0364;tigkeit von &#x017F;elb&#x017F;t und unwillku&#x0364;hrlich vorhan-<lb/>
den gewe&#x017F;en &#x017F;eyn. Wir mu&#x0364;ßten vorher &#x017F;chon auf eine<lb/>
a&#x0364;hnliche Art geurtheilet, die&#x017F;en Aktus empfunden, und<lb/>
eine Vor&#x017F;tellung davon in uns aufbehalten haben.</p><lb/>
            <p>Daraus i&#x017F;t es eine natu&#x0364;rliche Folge, daß wir auch<lb/>
in dem Fall, wo wir u&#x0364;ber <hi rendition="#fr">Jdeen</hi> &#x017F;chon unter&#x017F;chiedener<lb/>
Vor&#x017F;tellungen urtheilen, dennoch das er&#x017F;te mal, wenn<lb/>
wir ihre Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e denken, &#x017F;ie unwillku&#x0364;hrlich und noth-<lb/>
wendig auf die Art denken, als wir es thun. Die <hi rendition="#fr">er-<lb/>
&#x017F;ten Urtheile des gemeinen Ver&#x017F;tandes,</hi> daß es<lb/>
Ko&#x0364;rper außer uns gebe, daß die Seele in den Ko&#x0364;rper<lb/>
wirke; die er&#x017F;ten Rai&#x017F;onnements u&#x0364;ber die Ge&#x017F;talt des<lb/>
Himmels, und viele andere Grund&#x017F;a&#x0364;tze &#x017F;ind Wirkungen<lb/>
der Natur, die der Jdeali&#x017F;t, der Harmoni&#x017F;t und der<lb/>
A&#x017F;tronom &#x017F;chon in &#x017F;einem Kopf antrift, ehe er durch Fleiß<lb/>
und wiederholtes Be&#x017F;treben es &#x017F;ich mo&#x0364;glich machet, &#x017F;ie<lb/>
umzu&#x017F;chaffen. Und eine &#x017F;olche Uma&#x0364;nderung jener Ur-<lb/>
theile, i&#x017F;t, die&#x017F;elbigen Vor&#x017F;tellungen nemlich von den<lb/>
Subjekten und Pra&#x0364;dikaten unvera&#x0364;ndert vorausge&#x017F;etzt,<lb/>
nicht ehe in &#x017F;einer Gewalt, als bis er mit vielen Vor&#x017F;tel-<lb/>
lungen und Jdeen von die&#x017F;en Denkhandlungen und von<lb/>
ihren entgegen&#x017F;tehenden ver&#x017F;ehen i&#x017F;t.</p><lb/>
            <p>Aber wie bekommt er es denn in &#x017F;einer Gewalt, die-<lb/>
&#x017F;e Urtheile umzua&#x0364;ndern und in wie weit? Wenn man<lb/>
&#x017F;chon &#x017F;o oft mit den Empfindungsvor&#x017F;tellungen von der<lb/>
Sonne und Mond den Gedanken verbunden hat, daß<lb/>
beide von gleicher Gro&#x0364;ße &#x017F;ind; wenn es &#x017F;chon mehrma-<lb/>
len gedacht worden i&#x017F;t, daß der Ti&#x017F;ch, den ich anfu&#x0364;hle,<lb/>
ein exi&#x017F;tirendes Ding außer mir i&#x017F;t, &#x017F;o muß die Gewohn-<lb/>
heit &#x017F;o einen Gedanken mit den Vor&#x017F;tellungen oder Jdeen<lb/>
zu verbinden, die er&#x017F;te natu&#x0364;rliche Verbindung ver&#x017F;ta&#x0364;rket,<lb/>
und fa&#x017F;t unauflo&#x0364;slich gemacht haben. Durch welche<lb/>
Mittel kann al&#x017F;o nachher die Reflexionsa&#x0364;ußerung von den<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">gegen-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[477/0537] der allgem. Vernunftwahrheiten, ⁊c. ſolches durch die Natur der Denkkraft, und in Gemaͤß- heit der Vorſtellungen erfolget, ſo mußte ſchon vorher eine Denkthaͤtigkeit von ſelbſt und unwillkuͤhrlich vorhan- den geweſen ſeyn. Wir muͤßten vorher ſchon auf eine aͤhnliche Art geurtheilet, dieſen Aktus empfunden, und eine Vorſtellung davon in uns aufbehalten haben. Daraus iſt es eine natuͤrliche Folge, daß wir auch in dem Fall, wo wir uͤber Jdeen ſchon unterſchiedener Vorſtellungen urtheilen, dennoch das erſte mal, wenn wir ihre Verhaͤltniſſe denken, ſie unwillkuͤhrlich und noth- wendig auf die Art denken, als wir es thun. Die er- ſten Urtheile des gemeinen Verſtandes, daß es Koͤrper außer uns gebe, daß die Seele in den Koͤrper wirke; die erſten Raiſonnements uͤber die Geſtalt des Himmels, und viele andere Grundſaͤtze ſind Wirkungen der Natur, die der Jdealiſt, der Harmoniſt und der Aſtronom ſchon in ſeinem Kopf antrift, ehe er durch Fleiß und wiederholtes Beſtreben es ſich moͤglich machet, ſie umzuſchaffen. Und eine ſolche Umaͤnderung jener Ur- theile, iſt, dieſelbigen Vorſtellungen nemlich von den Subjekten und Praͤdikaten unveraͤndert vorausgeſetzt, nicht ehe in ſeiner Gewalt, als bis er mit vielen Vorſtel- lungen und Jdeen von dieſen Denkhandlungen und von ihren entgegenſtehenden verſehen iſt. Aber wie bekommt er es denn in ſeiner Gewalt, die- ſe Urtheile umzuaͤndern und in wie weit? Wenn man ſchon ſo oft mit den Empfindungsvorſtellungen von der Sonne und Mond den Gedanken verbunden hat, daß beide von gleicher Groͤße ſind; wenn es ſchon mehrma- len gedacht worden iſt, daß der Tiſch, den ich anfuͤhle, ein exiſtirendes Ding außer mir iſt, ſo muß die Gewohn- heit ſo einen Gedanken mit den Vorſtellungen oder Jdeen zu verbinden, die erſte natuͤrliche Verbindung verſtaͤrket, und faſt unaufloͤslich gemacht haben. Durch welche Mittel kann alſo nachher die Reflexionsaͤußerung von den gegen-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/537
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/537>, abgerufen am 16.07.2024.