Beyspiel die beiden Figuren für Einerley, für sich den- kende Figuren gehalten werden? Können wir sie nicht für verschieden in uns erklären? Wie weit ist es sub- jektivisch nothwendig, daß, wenn wir urtheilen, wir so urtheilen, und nicht anders?
Drittens. Diese Nothwendigkeit oder Zufälligkeit ist zunächst eine subjektivische. Wie kommen wir zu der Erkenntniß der objektivischen, die wir den Din- gen außer uns und ihren Verhältnissen zuschreiben? Wie zu den nothwendigen Vernunftsätzen, in so ferne diese für Vorstellungen von dem, was den Objekten zukommt, angesehen werden?
Die beiden ersten Fragen betreffen die Nothwendig- keit oder Zufälligkeit der Verhältnißgedanken in uns, und zwar überhaupt. Die Fragen selbst sind noch sehr allgemein und unbestimmt. Um daher bestimmte Ant- worten geben zu können, worinn die Art der Nothwen- digkeit oder der Zufälligkeit, ihre Stärke, ihre Grenzen und Bedingungen aus Gründen einleuchtet, sehe ich es für dienlich an, vorher gewisse Unterschiede zwischen den verschiedenen Arten von Urtheilen anzugeben.
Verhältnißgedanken sind überhaupt Wirkungen in uns von einer innern Thätigkeit, die wir als den Aktus des Urtheilens ansehen, und der Denkkraft zu- schreiben. Lasset uns nun diesen Aktus der Denkkraft, als eine Wirkung, in Verbindung mit ihren Ursachen und Veranlassungen betrachten, und dann darauf sehen, in wie ferne diese Verbindung eine nothwendige oder eine zufällige Verbindung sey? Das Verhältnissedenken ist ein Denken, eine Kraftäusserung der Seele, die alle- mal gewisse vorhergehende Empfindungen oder Vorstel- lungen erfordert, wovon die Seelenkraft zu der Zeit mo- dificirt ist, wenn sie einen solchen Aktus hervorbringet. Und nach der Analogie solcher Fälle, die mit einiger Deutlichkeit beobachtet werden können, zu schließen, so
verbindet
VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
Beyſpiel die beiden Figuren fuͤr Einerley, fuͤr ſich den- kende Figuren gehalten werden? Koͤnnen wir ſie nicht fuͤr verſchieden in uns erklaͤren? Wie weit iſt es ſub- jektiviſch nothwendig, daß, wenn wir urtheilen, wir ſo urtheilen, und nicht anders?
Drittens. Dieſe Nothwendigkeit oder Zufaͤlligkeit iſt zunaͤchſt eine ſubjektiviſche. Wie kommen wir zu der Erkenntniß der objektiviſchen, die wir den Din- gen außer uns und ihren Verhaͤltniſſen zuſchreiben? Wie zu den nothwendigen Vernunftſaͤtzen, in ſo ferne dieſe fuͤr Vorſtellungen von dem, was den Objekten zukommt, angeſehen werden?
Die beiden erſten Fragen betreffen die Nothwendig- keit oder Zufaͤlligkeit der Verhaͤltnißgedanken in uns, und zwar uͤberhaupt. Die Fragen ſelbſt ſind noch ſehr allgemein und unbeſtimmt. Um daher beſtimmte Ant- worten geben zu koͤnnen, worinn die Art der Nothwen- digkeit oder der Zufaͤlligkeit, ihre Staͤrke, ihre Grenzen und Bedingungen aus Gruͤnden einleuchtet, ſehe ich es fuͤr dienlich an, vorher gewiſſe Unterſchiede zwiſchen den verſchiedenen Arten von Urtheilen anzugeben.
Verhaͤltnißgedanken ſind uͤberhaupt Wirkungen in uns von einer innern Thaͤtigkeit, die wir als den Aktus des Urtheilens anſehen, und der Denkkraft zu- ſchreiben. Laſſet uns nun dieſen Aktus der Denkkraft, als eine Wirkung, in Verbindung mit ihren Urſachen und Veranlaſſungen betrachten, und dann darauf ſehen, in wie ferne dieſe Verbindung eine nothwendige oder eine zufaͤllige Verbindung ſey? Das Verhaͤltniſſedenken iſt ein Denken, eine Kraftaͤuſſerung der Seele, die alle- mal gewiſſe vorhergehende Empfindungen oder Vorſtel- lungen erfordert, wovon die Seelenkraft zu der Zeit mo- dificirt iſt, wenn ſie einen ſolchen Aktus hervorbringet. Und nach der Analogie ſolcher Faͤlle, die mit einiger Deutlichkeit beobachtet werden koͤnnen, zu ſchließen, ſo
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VII. Verſuch. Von der Nothwendigkeit
Beyſpiel die beiden Figuren fuͤr Einerley, fuͤr ſich den-
kende Figuren gehalten werden? Koͤnnen wir ſie nicht
fuͤr verſchieden in uns erklaͤren? Wie weit iſt es ſub-
jektiviſch nothwendig, daß, wenn wir urtheilen, wir ſo
urtheilen, und nicht anders?
Drittens. Dieſe Nothwendigkeit oder Zufaͤlligkeit
iſt zunaͤchſt eine ſubjektiviſche. Wie kommen wir zu
der Erkenntniß der objektiviſchen, die wir den Din-
gen außer uns und ihren Verhaͤltniſſen zuſchreiben?
Wie zu den nothwendigen Vernunftſaͤtzen, in ſo
ferne dieſe fuͤr Vorſtellungen von dem, was den Objekten
zukommt, angeſehen werden?
Die beiden erſten Fragen betreffen die Nothwendig-
keit oder Zufaͤlligkeit der Verhaͤltnißgedanken in uns,
und zwar uͤberhaupt. Die Fragen ſelbſt ſind noch ſehr
allgemein und unbeſtimmt. Um daher beſtimmte Ant-
worten geben zu koͤnnen, worinn die Art der Nothwen-
digkeit oder der Zufaͤlligkeit, ihre Staͤrke, ihre Grenzen
und Bedingungen aus Gruͤnden einleuchtet, ſehe ich es
fuͤr dienlich an, vorher gewiſſe Unterſchiede zwiſchen den
verſchiedenen Arten von Urtheilen anzugeben.
Verhaͤltnißgedanken ſind uͤberhaupt Wirkungen
in uns von einer innern Thaͤtigkeit, die wir als den
Aktus des Urtheilens anſehen, und der Denkkraft zu-
ſchreiben. Laſſet uns nun dieſen Aktus der Denkkraft,
als eine Wirkung, in Verbindung mit ihren Urſachen
und Veranlaſſungen betrachten, und dann darauf ſehen,
in wie ferne dieſe Verbindung eine nothwendige oder eine
zufaͤllige Verbindung ſey? Das Verhaͤltniſſedenken
iſt ein Denken, eine Kraftaͤuſſerung der Seele, die alle-
mal gewiſſe vorhergehende Empfindungen oder Vorſtel-
lungen erfordert, wovon die Seelenkraft zu der Zeit mo-
dificirt iſt, wenn ſie einen ſolchen Aktus hervorbringet.
Und nach der Analogie ſolcher Faͤlle, die mit einiger
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/532>, abgerufen am 25.11.2024.
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