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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der sinnlich. Kenntn. u. d. vernünftigen.
allgemeinen Verhältnißgedanken bey den allgemeinen
Begriffen nicht eben so in der Natur der Denkkraft ge-
gründet, als es die ersten sinnlichsten Urtheile sind, wo
sinnliche Eindrücke gegen einander gehalten werden?

Jn diesen Fragen liegen drey Gründe, die jener
Meinung ganz entgegen sind.

Erstlich werden wir von den nothwendigen Grund-
wahrheiten so gleich das erstemal überzeuget, da wir
sie fassen und verstehen. Ein Exempel darf nur ange-
führet werden, um uns zu lehren, was sie eigentlich sa-
gen wollen; nicht aber, um sie zu beweisen. Ganz an-
ders verhält es sich mit den allgemeinen Beobachtungs-
sätzen, wo wenigstens mehrere Beyspiele nöthig sind.

Dann zweytens ist auch die Art, wie der Verstand
jenen Axiomen Beyfall giebet, verschieden von derjeni-
gen, womit Erfahrungssätze für allgemeine Wahrheiten
erkannt werden. Ein viereckter Zirkel ist ein Unding.
Jedes Ding ist sich selbst gleich. Ohne Ursache wird
Nichts. Der Triangel hat drey Winkel u. s. f. Dieß
kann ich nicht läugnen, weil ichs gar nicht anders den-
ken kann; alles Bestrebens ohngeachtet, und es bedarf
weiter keines Grundes, um meinen Beyfall zu erzwin-
gen, da es, wie wir sagen, für sich evident ist. Aber
bey allgemeinen Erfahrungen sehe ich mich nach den ein-
zelnen Fällen um, in welchen das Allgemeine vorkommt.
Je mehr mir solcher Fälle bekannt werden, desto mehr
wächset meine Ueberzeugung, die hier einer Zunahme
fähig ist; bey jenen Grundsätzen aber nicht.

Drittens ist ja für sich wahrscheinlich, da die ersten
unmittelbaren sinnlichen Verhältnißgedanken natürliche
Aeußerungen der Denkkraft bey den Vorstellungen sind,
so werden jene einfachen allgemeinen Verhältnißgedanken
auf eine ähnliche Weise entstehen, das ist, sie werden
natürliche Wirkungen seyn, die nach den Na-
turgesetzen der Denkkraft
durch dieser ihre Thätig-

keiten
G g 2

der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
allgemeinen Verhaͤltnißgedanken bey den allgemeinen
Begriffen nicht eben ſo in der Natur der Denkkraft ge-
gruͤndet, als es die erſten ſinnlichſten Urtheile ſind, wo
ſinnliche Eindruͤcke gegen einander gehalten werden?

Jn dieſen Fragen liegen drey Gruͤnde, die jener
Meinung ganz entgegen ſind.

Erſtlich werden wir von den nothwendigen Grund-
wahrheiten ſo gleich das erſtemal uͤberzeuget, da wir
ſie faſſen und verſtehen. Ein Exempel darf nur ange-
fuͤhret werden, um uns zu lehren, was ſie eigentlich ſa-
gen wollen; nicht aber, um ſie zu beweiſen. Ganz an-
ders verhaͤlt es ſich mit den allgemeinen Beobachtungs-
ſaͤtzen, wo wenigſtens mehrere Beyſpiele noͤthig ſind.

Dann zweytens iſt auch die Art, wie der Verſtand
jenen Axiomen Beyfall giebet, verſchieden von derjeni-
gen, womit Erfahrungsſaͤtze fuͤr allgemeine Wahrheiten
erkannt werden. Ein viereckter Zirkel iſt ein Unding.
Jedes Ding iſt ſich ſelbſt gleich. Ohne Urſache wird
Nichts. Der Triangel hat drey Winkel u. ſ. f. Dieß
kann ich nicht laͤugnen, weil ichs gar nicht anders den-
ken kann; alles Beſtrebens ohngeachtet, und es bedarf
weiter keines Grundes, um meinen Beyfall zu erzwin-
gen, da es, wie wir ſagen, fuͤr ſich evident iſt. Aber
bey allgemeinen Erfahrungen ſehe ich mich nach den ein-
zelnen Faͤllen um, in welchen das Allgemeine vorkommt.
Je mehr mir ſolcher Faͤlle bekannt werden, deſto mehr
waͤchſet meine Ueberzeugung, die hier einer Zunahme
faͤhig iſt; bey jenen Grundſaͤtzen aber nicht.

Drittens iſt ja fuͤr ſich wahrſcheinlich, da die erſten
unmittelbaren ſinnlichen Verhaͤltnißgedanken natuͤrliche
Aeußerungen der Denkkraft bey den Vorſtellungen ſind,
ſo werden jene einfachen allgemeinen Verhaͤltnißgedanken
auf eine aͤhnliche Weiſe entſtehen, das iſt, ſie werden
natuͤrliche Wirkungen ſeyn, die nach den Na-
turgeſetzen der Denkkraft
durch dieſer ihre Thaͤtig-

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[467/0527] der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen. allgemeinen Verhaͤltnißgedanken bey den allgemeinen Begriffen nicht eben ſo in der Natur der Denkkraft ge- gruͤndet, als es die erſten ſinnlichſten Urtheile ſind, wo ſinnliche Eindruͤcke gegen einander gehalten werden? Jn dieſen Fragen liegen drey Gruͤnde, die jener Meinung ganz entgegen ſind. Erſtlich werden wir von den nothwendigen Grund- wahrheiten ſo gleich das erſtemal uͤberzeuget, da wir ſie faſſen und verſtehen. Ein Exempel darf nur ange- fuͤhret werden, um uns zu lehren, was ſie eigentlich ſa- gen wollen; nicht aber, um ſie zu beweiſen. Ganz an- ders verhaͤlt es ſich mit den allgemeinen Beobachtungs- ſaͤtzen, wo wenigſtens mehrere Beyſpiele noͤthig ſind. Dann zweytens iſt auch die Art, wie der Verſtand jenen Axiomen Beyfall giebet, verſchieden von derjeni- gen, womit Erfahrungsſaͤtze fuͤr allgemeine Wahrheiten erkannt werden. Ein viereckter Zirkel iſt ein Unding. Jedes Ding iſt ſich ſelbſt gleich. Ohne Urſache wird Nichts. Der Triangel hat drey Winkel u. ſ. f. Dieß kann ich nicht laͤugnen, weil ichs gar nicht anders den- ken kann; alles Beſtrebens ohngeachtet, und es bedarf weiter keines Grundes, um meinen Beyfall zu erzwin- gen, da es, wie wir ſagen, fuͤr ſich evident iſt. Aber bey allgemeinen Erfahrungen ſehe ich mich nach den ein- zelnen Faͤllen um, in welchen das Allgemeine vorkommt. Je mehr mir ſolcher Faͤlle bekannt werden, deſto mehr waͤchſet meine Ueberzeugung, die hier einer Zunahme faͤhig iſt; bey jenen Grundſaͤtzen aber nicht. Drittens iſt ja fuͤr ſich wahrſcheinlich, da die erſten unmittelbaren ſinnlichen Verhaͤltnißgedanken natuͤrliche Aeußerungen der Denkkraft bey den Vorſtellungen ſind, ſo werden jene einfachen allgemeinen Verhaͤltnißgedanken auf eine aͤhnliche Weiſe entſtehen, das iſt, ſie werden natuͤrliche Wirkungen ſeyn, die nach den Na- turgeſetzen der Denkkraft durch dieſer ihre Thaͤtig- keiten G g 2

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/527>, abgerufen am 18.12.2024.