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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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VI. Versuch. Ueber den Unterschied
wenn nicht die nothwendigen Axiomen der Vernunft
mit ihnen vermischet werden. Man versuche es, einen
solchen reinen Erfahrungssatz mit einem andern zu ver-
binden. Z. B. den Satz, daß ein jeder Körper schwer
ist, mit diesem: die Theile eines um einen Mittelpunkt
in die Runde gedreheten Körpers haben einen Hang, sich
von dem Mittelpunkt zu entfernen; beides sind Erfah-
rungssätze; man versuche, beide in einen Zusammen-
hang zu bringen, so wird man folgern und schließen
müssen; aber wo ist eine Folgerung und ein Schluß nur
möglich, wenn nicht allgemeine nothwendige Vernunft-
sätze gebrauchet werden, die aus einer ganz andern Quelle
her sind, als diejenigen, welche man vermittelst ihrer
verbinden will?

3.

Zuerst muß der Gedanke entfernet werden, daß die
allgemeinen nothwendigen Grundsätze, Ab-
straktionen aus Erfahrungen
sind. Dieß sind sie
nicht, und können es auch nicht seyn, und nur aus Miß-
verstand hat man sie dafür angesehen. Kann die Ver-
nunft das Axiom: daß jedes Ding sich selbst gleich
ist,
und der Geometer seinen Lehrsatz: "daß gleiches zu
gleichem addirt, eine gleiche Summe gebe," daher erst
als eine allgemeine Wahrheit erlernet haben, weil man es
in den einzelnen Fällen so befunden hat? Einzelne Bey-
spiele machen solche allgemeine Grundsätze verständlich,
und erläutern sie, aber die Einsicht, daß sie allgemeine
Sätze sind, hängt deswegen von der Jnduktion nicht ab.
Jst nicht der Beyfall, womit der Verstand solche auf-
fallende Sätze annimmt, sobald er sie versteht, und das
erstemal sie eben so stark und so nothwendig annimmt,
als nachher, wenn er sie tausendmal gedacht hat, ist dieß
nicht ein Beweis, daß eine andere Ursache da seyn müsse,
die ihm diese Beystimmung abzwingt? Sind diese

allge-

VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
wenn nicht die nothwendigen Axiomen der Vernunft
mit ihnen vermiſchet werden. Man verſuche es, einen
ſolchen reinen Erfahrungsſatz mit einem andern zu ver-
binden. Z. B. den Satz, daß ein jeder Koͤrper ſchwer
iſt, mit dieſem: die Theile eines um einen Mittelpunkt
in die Runde gedreheten Koͤrpers haben einen Hang, ſich
von dem Mittelpunkt zu entfernen; beides ſind Erfah-
rungsſaͤtze; man verſuche, beide in einen Zuſammen-
hang zu bringen, ſo wird man folgern und ſchließen
muͤſſen; aber wo iſt eine Folgerung und ein Schluß nur
moͤglich, wenn nicht allgemeine nothwendige Vernunft-
ſaͤtze gebrauchet werden, die aus einer ganz andern Quelle
her ſind, als diejenigen, welche man vermittelſt ihrer
verbinden will?

3.

Zuerſt muß der Gedanke entfernet werden, daß die
allgemeinen nothwendigen Grundſaͤtze, Ab-
ſtraktionen aus Erfahrungen
ſind. Dieß ſind ſie
nicht, und koͤnnen es auch nicht ſeyn, und nur aus Miß-
verſtand hat man ſie dafuͤr angeſehen. Kann die Ver-
nunft das Axiom: daß jedes Ding ſich ſelbſt gleich
iſt,
und der Geometer ſeinen Lehrſatz: „daß gleiches zu
gleichem addirt, eine gleiche Summe gebe,‟ daher erſt
als eine allgemeine Wahrheit erlernet haben, weil man es
in den einzelnen Faͤllen ſo befunden hat? Einzelne Bey-
ſpiele machen ſolche allgemeine Grundſaͤtze verſtaͤndlich,
und erlaͤutern ſie, aber die Einſicht, daß ſie allgemeine
Saͤtze ſind, haͤngt deswegen von der Jnduktion nicht ab.
Jſt nicht der Beyfall, womit der Verſtand ſolche auf-
fallende Saͤtze annimmt, ſobald er ſie verſteht, und das
erſtemal ſie eben ſo ſtark und ſo nothwendig annimmt,
als nachher, wenn er ſie tauſendmal gedacht hat, iſt dieß
nicht ein Beweis, daß eine andere Urſache da ſeyn muͤſſe,
die ihm dieſe Beyſtimmung abzwingt? Sind dieſe

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[466/0526] VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied wenn nicht die nothwendigen Axiomen der Vernunft mit ihnen vermiſchet werden. Man verſuche es, einen ſolchen reinen Erfahrungsſatz mit einem andern zu ver- binden. Z. B. den Satz, daß ein jeder Koͤrper ſchwer iſt, mit dieſem: die Theile eines um einen Mittelpunkt in die Runde gedreheten Koͤrpers haben einen Hang, ſich von dem Mittelpunkt zu entfernen; beides ſind Erfah- rungsſaͤtze; man verſuche, beide in einen Zuſammen- hang zu bringen, ſo wird man folgern und ſchließen muͤſſen; aber wo iſt eine Folgerung und ein Schluß nur moͤglich, wenn nicht allgemeine nothwendige Vernunft- ſaͤtze gebrauchet werden, die aus einer ganz andern Quelle her ſind, als diejenigen, welche man vermittelſt ihrer verbinden will? 3. Zuerſt muß der Gedanke entfernet werden, daß die allgemeinen nothwendigen Grundſaͤtze, Ab- ſtraktionen aus Erfahrungen ſind. Dieß ſind ſie nicht, und koͤnnen es auch nicht ſeyn, und nur aus Miß- verſtand hat man ſie dafuͤr angeſehen. Kann die Ver- nunft das Axiom: daß jedes Ding ſich ſelbſt gleich iſt, und der Geometer ſeinen Lehrſatz: „daß gleiches zu gleichem addirt, eine gleiche Summe gebe,‟ daher erſt als eine allgemeine Wahrheit erlernet haben, weil man es in den einzelnen Faͤllen ſo befunden hat? Einzelne Bey- ſpiele machen ſolche allgemeine Grundſaͤtze verſtaͤndlich, und erlaͤutern ſie, aber die Einſicht, daß ſie allgemeine Saͤtze ſind, haͤngt deswegen von der Jnduktion nicht ab. Jſt nicht der Beyfall, womit der Verſtand ſolche auf- fallende Saͤtze annimmt, ſobald er ſie verſteht, und das erſtemal ſie eben ſo ſtark und ſo nothwendig annimmt, als nachher, wenn er ſie tauſendmal gedacht hat, iſt dieß nicht ein Beweis, daß eine andere Urſache da ſeyn muͤſſe, die ihm dieſe Beyſtimmung abzwingt? Sind dieſe allge-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/526>, abgerufen am 24.11.2024.