Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der sinnlich. Kenntn. u. d. vernünftigen.
zuzeichnen. Dahin gehören die allgemeinen Vorstel-
lungen von den Gattungen der Dinge, welche die Natur
gemacht hat. Mensch, Thier, Baum, Wasser sind
Aehnlichkeiten mehrerer Empfindungen, deren Theile
stark genug zusammenhangen, und die sich als Ganze
deutlich genug im Kopf von einander absondern würden,
wenn wir auch gleich ihre Benennungen entbehren müß-
ten. Solche allgemeine sinnliche Abstrakta haben für
sich ohne Worte in der Phantasie Haltung genug, um
zu bestehen.

Aber auch in den übrigen Fällen, wo die einmal be-
merkten Aehnlichkeiten sich in der ganzen Masse unserer
Bilder wieder zerstreuen möchten, wenn man sie nicht
durch ein Wort, als durch ein Band zusammen verei-
niget hielte, sind dennoch die Wörter immer nur die
Zeichen der Vorstellungen, niemals die Vorstellun-
gen selbst. Der sie vergleichende und urtheilende Ver-
stand hält die Vorstellungen sich vermittelst der Worte
vor, siehet jene bey diesen, und durch diese, aber nicht
diese allein, und die Reflexion, welche Verhältnisse der
Vorstellungen denket, urtheilet nicht über die Worte.
Die allgemeinen Begriffe von dem Seyn, von der Sub-
stanz, von der Nothwendigkeit u. s. w. sind nun zwar so
innig als möglich diesen Zeichen einverleibet, aber wer
über solche Jdeen nachdenken will, muß nicht die Wor-
te anschauen, sondern die Sachen, das sind hier die
Aehnlichkeiten der Empfindungen, welche man mit die-
sen Worten bezeichnet hat. Es ist nur so oft von den
spekulirenden Metaphysikern geschehen, daß gewisse Ver-
hältnisse der Wörter mit den Verhältnissen der Sachen
verwechselt worden sind, woraus sachleere Wortkräme-
rey entstanden ist.

Dennoch giebt es eine gewisse Klasse von allgemei-
nen Urtheilen,
wovon man sagen kann, die Reflexion
brauche außer den Worten oder den Zeichen nichts vor

sich

der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
zuzeichnen. Dahin gehoͤren die allgemeinen Vorſtel-
lungen von den Gattungen der Dinge, welche die Natur
gemacht hat. Menſch, Thier, Baum, Waſſer ſind
Aehnlichkeiten mehrerer Empfindungen, deren Theile
ſtark genug zuſammenhangen, und die ſich als Ganze
deutlich genug im Kopf von einander abſondern wuͤrden,
wenn wir auch gleich ihre Benennungen entbehren muͤß-
ten. Solche allgemeine ſinnliche Abſtrakta haben fuͤr
ſich ohne Worte in der Phantaſie Haltung genug, um
zu beſtehen.

Aber auch in den uͤbrigen Faͤllen, wo die einmal be-
merkten Aehnlichkeiten ſich in der ganzen Maſſe unſerer
Bilder wieder zerſtreuen moͤchten, wenn man ſie nicht
durch ein Wort, als durch ein Band zuſammen verei-
niget hielte, ſind dennoch die Woͤrter immer nur die
Zeichen der Vorſtellungen, niemals die Vorſtellun-
gen ſelbſt. Der ſie vergleichende und urtheilende Ver-
ſtand haͤlt die Vorſtellungen ſich vermittelſt der Worte
vor, ſiehet jene bey dieſen, und durch dieſe, aber nicht
dieſe allein, und die Reflexion, welche Verhaͤltniſſe der
Vorſtellungen denket, urtheilet nicht uͤber die Worte.
Die allgemeinen Begriffe von dem Seyn, von der Sub-
ſtanz, von der Nothwendigkeit u. ſ. w. ſind nun zwar ſo
innig als moͤglich dieſen Zeichen einverleibet, aber wer
uͤber ſolche Jdeen nachdenken will, muß nicht die Wor-
te anſchauen, ſondern die Sachen, das ſind hier die
Aehnlichkeiten der Empfindungen, welche man mit die-
ſen Worten bezeichnet hat. Es iſt nur ſo oft von den
ſpekulirenden Metaphyſikern geſchehen, daß gewiſſe Ver-
haͤltniſſe der Woͤrter mit den Verhaͤltniſſen der Sachen
verwechſelt worden ſind, woraus ſachleere Wortkraͤme-
rey entſtanden iſt.

Dennoch giebt es eine gewiſſe Klaſſe von allgemei-
nen Urtheilen,
wovon man ſagen kann, die Reflexion
brauche außer den Worten oder den Zeichen nichts vor

ſich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0521" n="461"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der &#x017F;innlich. Kenntn. u. d. vernu&#x0364;nftigen.</hi></fw><lb/>
zuzeichnen. Dahin geho&#x0364;ren die allgemeinen Vor&#x017F;tel-<lb/>
lungen von den Gattungen der Dinge, welche die Natur<lb/>
gemacht hat. Men&#x017F;ch, Thier, Baum, Wa&#x017F;&#x017F;er &#x017F;ind<lb/>
Aehnlichkeiten mehrerer Empfindungen, deren Theile<lb/>
&#x017F;tark genug zu&#x017F;ammenhangen, und die &#x017F;ich als Ganze<lb/>
deutlich genug im Kopf von einander ab&#x017F;ondern wu&#x0364;rden,<lb/>
wenn wir auch gleich ihre Benennungen entbehren mu&#x0364;ß-<lb/>
ten. Solche allgemeine &#x017F;innliche Ab&#x017F;trakta haben fu&#x0364;r<lb/>
&#x017F;ich ohne Worte in der Phanta&#x017F;ie Haltung genug, um<lb/>
zu be&#x017F;tehen.</p><lb/>
            <p>Aber auch in den u&#x0364;brigen Fa&#x0364;llen, wo die einmal be-<lb/>
merkten Aehnlichkeiten &#x017F;ich in der ganzen Ma&#x017F;&#x017F;e un&#x017F;erer<lb/>
Bilder wieder zer&#x017F;treuen mo&#x0364;chten, wenn man &#x017F;ie nicht<lb/>
durch ein <hi rendition="#fr">Wort,</hi> als durch ein Band zu&#x017F;ammen verei-<lb/>
niget hielte, &#x017F;ind dennoch die Wo&#x0364;rter immer nur die<lb/><hi rendition="#fr">Zeichen der Vor&#x017F;tellungen,</hi> niemals die Vor&#x017F;tellun-<lb/>
gen &#x017F;elb&#x017F;t. Der &#x017F;ie vergleichende und urtheilende Ver-<lb/>
&#x017F;tand ha&#x0364;lt die Vor&#x017F;tellungen &#x017F;ich vermittel&#x017F;t der Worte<lb/>
vor, &#x017F;iehet jene bey die&#x017F;en, und durch die&#x017F;e, aber nicht<lb/>
die&#x017F;e allein, und die Reflexion, welche Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e der<lb/>
Vor&#x017F;tellungen denket, urtheilet nicht u&#x0364;ber die Worte.<lb/>
Die allgemeinen Begriffe von dem Seyn, von der Sub-<lb/>
&#x017F;tanz, von der Nothwendigkeit u. &#x017F;. w. &#x017F;ind nun zwar &#x017F;o<lb/>
innig als mo&#x0364;glich die&#x017F;en Zeichen einverleibet, aber wer<lb/>
u&#x0364;ber &#x017F;olche Jdeen nachdenken will, muß nicht die Wor-<lb/>
te an&#x017F;chauen, &#x017F;ondern die Sachen, das &#x017F;ind hier die<lb/>
Aehnlichkeiten der Empfindungen, welche man mit die-<lb/>
&#x017F;en Worten bezeichnet hat. Es i&#x017F;t nur &#x017F;o oft von den<lb/>
&#x017F;pekulirenden Metaphy&#x017F;ikern ge&#x017F;chehen, daß gewi&#x017F;&#x017F;e Ver-<lb/>
ha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e der Wo&#x0364;rter mit den Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en der Sachen<lb/>
verwech&#x017F;elt worden &#x017F;ind, woraus &#x017F;achleere Wortkra&#x0364;me-<lb/>
rey ent&#x017F;tanden i&#x017F;t.</p><lb/>
            <p>Dennoch giebt es eine gewi&#x017F;&#x017F;e Kla&#x017F;&#x017F;e von <hi rendition="#fr">allgemei-<lb/>
nen Urtheilen,</hi> wovon man &#x017F;agen kann, die Reflexion<lb/>
brauche außer den Worten oder den Zeichen nichts vor<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ich</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[461/0521] der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen. zuzeichnen. Dahin gehoͤren die allgemeinen Vorſtel- lungen von den Gattungen der Dinge, welche die Natur gemacht hat. Menſch, Thier, Baum, Waſſer ſind Aehnlichkeiten mehrerer Empfindungen, deren Theile ſtark genug zuſammenhangen, und die ſich als Ganze deutlich genug im Kopf von einander abſondern wuͤrden, wenn wir auch gleich ihre Benennungen entbehren muͤß- ten. Solche allgemeine ſinnliche Abſtrakta haben fuͤr ſich ohne Worte in der Phantaſie Haltung genug, um zu beſtehen. Aber auch in den uͤbrigen Faͤllen, wo die einmal be- merkten Aehnlichkeiten ſich in der ganzen Maſſe unſerer Bilder wieder zerſtreuen moͤchten, wenn man ſie nicht durch ein Wort, als durch ein Band zuſammen verei- niget hielte, ſind dennoch die Woͤrter immer nur die Zeichen der Vorſtellungen, niemals die Vorſtellun- gen ſelbſt. Der ſie vergleichende und urtheilende Ver- ſtand haͤlt die Vorſtellungen ſich vermittelſt der Worte vor, ſiehet jene bey dieſen, und durch dieſe, aber nicht dieſe allein, und die Reflexion, welche Verhaͤltniſſe der Vorſtellungen denket, urtheilet nicht uͤber die Worte. Die allgemeinen Begriffe von dem Seyn, von der Sub- ſtanz, von der Nothwendigkeit u. ſ. w. ſind nun zwar ſo innig als moͤglich dieſen Zeichen einverleibet, aber wer uͤber ſolche Jdeen nachdenken will, muß nicht die Wor- te anſchauen, ſondern die Sachen, das ſind hier die Aehnlichkeiten der Empfindungen, welche man mit die- ſen Worten bezeichnet hat. Es iſt nur ſo oft von den ſpekulirenden Metaphyſikern geſchehen, daß gewiſſe Ver- haͤltniſſe der Woͤrter mit den Verhaͤltniſſen der Sachen verwechſelt worden ſind, woraus ſachleere Wortkraͤme- rey entſtanden iſt. Dennoch giebt es eine gewiſſe Klaſſe von allgemei- nen Urtheilen, wovon man ſagen kann, die Reflexion brauche außer den Worten oder den Zeichen nichts vor ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/521
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 461. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/521>, abgerufen am 23.12.2024.