Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der sinnlich. Kenntn. u. d. vernünftigen.
lernen. So verhält es sich mit den ersten ursprüngli-
chen Verhältnißgedanken.

Eine Fertigkeit, Verhältnisse zu denken, also vor-
ausgesetzt, wie ist das sinnliche Urtheil entstanden? Jst
es ein unmittelbarer Ausbruch der Denkkraft, wenn ein
Mensch, der das erstemal die Sonne und den Mond ver-
gleichet, sie für gleich groß hält? oder setzet dieses Ur-
theil schon andere vorhergegangne voraus, und welche?

Das gedachte sinnliche Urtheil kann zuerst als ein
einfaches Urtheil angesehen werden, wie ich oben erin-
nert habe. Die den Objekten zugeschriebene Gleichheit
kann blos die sichtliche Gleichheit oder Einerleyheit,
unter den Umständen seyn, unter denen die Objekte ge-
sehen werden. Alsdenn ist nicht mehr zu untersuchen,
wie der Verhältnißgedanke entstehet? Er ist ein in-
stinktartiger Ausbruch der Jdentität denkenden Seelen-
kraft. Jn den Empfindungen zweyer Dinge ist nichts
zu unterscheiden. Das ist genug; alsdenn müssen sie
als einerley gedacht werden.

Es kann aber die Jdee, die wir mit dem Prädikat
verbinden, schon mehr zusammengesetzt seyn, und sie ist
es auch in dem Sinn, in welchem es der Schäfer
nimmt, wenn er Sonne und Mond für gleich groß er-
kennet. Ein Ding ist dem andern gleich, heißt so viel als:
es ist ihm nicht nur hier und unter diesen Umständen,
unter denen wir beide sehen, sondern auch dann
gleich, wenn wir beide fühlen, das heißt, es ist auch ei-
ne fühlbare Gleichheit da; und die Jdentität der Ge-
fühlsempfindungen macht eigentlich die Gleichheit aus,
oder ist es vielmehr, aus der wir die Abstraktion von der
Gleichheit, die dem Monde in Beziehung auf die Son-
ne in unserm sinnlichen Urtheil zugeschrieben wird, gezo-
gen haben.

Wird das sinnliche Urtheil in dieser letzten Gestalt
betrachtet, so muß die Abstraktion von der fühlbaren

Gleich-
F f 5

der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
lernen. So verhaͤlt es ſich mit den erſten urſpruͤngli-
chen Verhaͤltnißgedanken.

Eine Fertigkeit, Verhaͤltniſſe zu denken, alſo vor-
ausgeſetzt, wie iſt das ſinnliche Urtheil entſtanden? Jſt
es ein unmittelbarer Ausbruch der Denkkraft, wenn ein
Menſch, der das erſtemal die Sonne und den Mond ver-
gleichet, ſie fuͤr gleich groß haͤlt? oder ſetzet dieſes Ur-
theil ſchon andere vorhergegangne voraus, und welche?

Das gedachte ſinnliche Urtheil kann zuerſt als ein
einfaches Urtheil angeſehen werden, wie ich oben erin-
nert habe. Die den Objekten zugeſchriebene Gleichheit
kann blos die ſichtliche Gleichheit oder Einerleyheit,
unter den Umſtaͤnden ſeyn, unter denen die Objekte ge-
ſehen werden. Alsdenn iſt nicht mehr zu unterſuchen,
wie der Verhaͤltnißgedanke entſtehet? Er iſt ein in-
ſtinktartiger Ausbruch der Jdentitaͤt denkenden Seelen-
kraft. Jn den Empfindungen zweyer Dinge iſt nichts
zu unterſcheiden. Das iſt genug; alsdenn muͤſſen ſie
als einerley gedacht werden.

Es kann aber die Jdee, die wir mit dem Praͤdikat
verbinden, ſchon mehr zuſammengeſetzt ſeyn, und ſie iſt
es auch in dem Sinn, in welchem es der Schaͤfer
nimmt, wenn er Sonne und Mond fuͤr gleich groß er-
kennet. Ein Ding iſt dem andern gleich, heißt ſo viel als:
es iſt ihm nicht nur hier und unter dieſen Umſtaͤnden,
unter denen wir beide ſehen, ſondern auch dann
gleich, wenn wir beide fuͤhlen, das heißt, es iſt auch ei-
ne fuͤhlbare Gleichheit da; und die Jdentitaͤt der Ge-
fuͤhlsempfindungen macht eigentlich die Gleichheit aus,
oder iſt es vielmehr, aus der wir die Abſtraktion von der
Gleichheit, die dem Monde in Beziehung auf die Son-
ne in unſerm ſinnlichen Urtheil zugeſchrieben wird, gezo-
gen haben.

Wird das ſinnliche Urtheil in dieſer letzten Geſtalt
betrachtet, ſo muß die Abſtraktion von der fuͤhlbaren

Gleich-
F f 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0517" n="457"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der &#x017F;innlich. Kenntn. u. d. vernu&#x0364;nftigen.</hi></fw><lb/>
lernen. So verha&#x0364;lt es &#x017F;ich mit den er&#x017F;ten ur&#x017F;pru&#x0364;ngli-<lb/>
chen Verha&#x0364;ltnißgedanken.</p><lb/>
            <p>Eine <hi rendition="#fr">Fertigkeit,</hi> Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e zu denken, al&#x017F;o vor-<lb/>
ausge&#x017F;etzt, wie i&#x017F;t das &#x017F;innliche Urtheil ent&#x017F;tanden? J&#x017F;t<lb/>
es ein unmittelbarer Ausbruch der Denkkraft, wenn ein<lb/>
Men&#x017F;ch, der das er&#x017F;temal die Sonne und den Mond ver-<lb/>
gleichet, &#x017F;ie fu&#x0364;r <hi rendition="#fr">gleich groß</hi> ha&#x0364;lt? oder &#x017F;etzet die&#x017F;es Ur-<lb/>
theil &#x017F;chon andere vorhergegangne voraus, und welche?</p><lb/>
            <p>Das gedachte &#x017F;innliche Urtheil kann zuer&#x017F;t als ein<lb/>
einfaches Urtheil ange&#x017F;ehen werden, wie ich oben erin-<lb/>
nert habe. Die den Objekten zuge&#x017F;chriebene Gleichheit<lb/>
kann blos die <hi rendition="#fr">&#x017F;ichtliche</hi> Gleichheit oder Einerleyheit,<lb/>
unter den Um&#x017F;ta&#x0364;nden &#x017F;eyn, unter denen die Objekte ge-<lb/>
&#x017F;ehen werden. Alsdenn i&#x017F;t nicht mehr zu unter&#x017F;uchen,<lb/>
wie der Verha&#x0364;ltnißgedanke ent&#x017F;tehet? Er i&#x017F;t ein in-<lb/>
&#x017F;tinktartiger Ausbruch der Jdentita&#x0364;t denkenden Seelen-<lb/>
kraft. Jn den Empfindungen zweyer Dinge i&#x017F;t nichts<lb/>
zu unter&#x017F;cheiden. Das i&#x017F;t genug; alsdenn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie<lb/>
als einerley gedacht werden.</p><lb/>
            <p>Es kann aber die Jdee, die wir mit dem Pra&#x0364;dikat<lb/>
verbinden, &#x017F;chon mehr zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzt &#x017F;eyn, und &#x017F;ie i&#x017F;t<lb/>
es auch in dem Sinn, in welchem es der Scha&#x0364;fer<lb/>
nimmt, wenn er Sonne und Mond fu&#x0364;r gleich groß er-<lb/>
kennet. Ein Ding i&#x017F;t dem andern gleich, heißt &#x017F;o viel als:<lb/>
es i&#x017F;t ihm nicht nur hier und unter die&#x017F;en Um&#x017F;ta&#x0364;nden,<lb/>
unter denen wir beide &#x017F;ehen, &#x017F;ondern auch dann<lb/>
gleich, wenn wir beide fu&#x0364;hlen, das heißt, es i&#x017F;t auch ei-<lb/>
ne fu&#x0364;hlbare Gleichheit da; und die Jdentita&#x0364;t der Ge-<lb/>
fu&#x0364;hlsempfindungen macht eigentlich die Gleichheit aus,<lb/>
oder i&#x017F;t es vielmehr, aus der wir die Ab&#x017F;traktion von der<lb/>
Gleichheit, die dem Monde in Beziehung auf die Son-<lb/>
ne in un&#x017F;erm &#x017F;innlichen Urtheil zuge&#x017F;chrieben wird, gezo-<lb/>
gen haben.</p><lb/>
            <p>Wird das &#x017F;innliche Urtheil in die&#x017F;er letzten Ge&#x017F;talt<lb/>
betrachtet, &#x017F;o muß die Ab&#x017F;traktion von der fu&#x0364;hlbaren<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">F f 5</fw><fw place="bottom" type="catch">Gleich-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[457/0517] der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen. lernen. So verhaͤlt es ſich mit den erſten urſpruͤngli- chen Verhaͤltnißgedanken. Eine Fertigkeit, Verhaͤltniſſe zu denken, alſo vor- ausgeſetzt, wie iſt das ſinnliche Urtheil entſtanden? Jſt es ein unmittelbarer Ausbruch der Denkkraft, wenn ein Menſch, der das erſtemal die Sonne und den Mond ver- gleichet, ſie fuͤr gleich groß haͤlt? oder ſetzet dieſes Ur- theil ſchon andere vorhergegangne voraus, und welche? Das gedachte ſinnliche Urtheil kann zuerſt als ein einfaches Urtheil angeſehen werden, wie ich oben erin- nert habe. Die den Objekten zugeſchriebene Gleichheit kann blos die ſichtliche Gleichheit oder Einerleyheit, unter den Umſtaͤnden ſeyn, unter denen die Objekte ge- ſehen werden. Alsdenn iſt nicht mehr zu unterſuchen, wie der Verhaͤltnißgedanke entſtehet? Er iſt ein in- ſtinktartiger Ausbruch der Jdentitaͤt denkenden Seelen- kraft. Jn den Empfindungen zweyer Dinge iſt nichts zu unterſcheiden. Das iſt genug; alsdenn muͤſſen ſie als einerley gedacht werden. Es kann aber die Jdee, die wir mit dem Praͤdikat verbinden, ſchon mehr zuſammengeſetzt ſeyn, und ſie iſt es auch in dem Sinn, in welchem es der Schaͤfer nimmt, wenn er Sonne und Mond fuͤr gleich groß er- kennet. Ein Ding iſt dem andern gleich, heißt ſo viel als: es iſt ihm nicht nur hier und unter dieſen Umſtaͤnden, unter denen wir beide ſehen, ſondern auch dann gleich, wenn wir beide fuͤhlen, das heißt, es iſt auch ei- ne fuͤhlbare Gleichheit da; und die Jdentitaͤt der Ge- fuͤhlsempfindungen macht eigentlich die Gleichheit aus, oder iſt es vielmehr, aus der wir die Abſtraktion von der Gleichheit, die dem Monde in Beziehung auf die Son- ne in unſerm ſinnlichen Urtheil zugeſchrieben wird, gezo- gen haben. Wird das ſinnliche Urtheil in dieſer letzten Geſtalt betrachtet, ſo muß die Abſtraktion von der fuͤhlbaren Gleich- F f 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/517
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/517>, abgerufen am 23.12.2024.