nichts dazwischen treten, und die Reflexion entweder zu- rückhalten, oder sie anders wohin lenken sollte.
Viertens. Da, wo das sinnliche Urtheil durch das vernünftige aufgehoben wird, findet sich, daß die Unrichtigkeit von jenem daher entstanden sey, "weil man "ein gewisses subjektivisches Verhältniß der Vor- "stellungen als ein zuverläßiges Merkmal von dem "Verhältniß der Objekte gebrauchet hatte, das doch "nicht zuverläßig und hinreichend war." Die gleiche Größe der Bilder im Auge, leitet in unserm Beyspiel das sinnliche Urtheil, aber sie ist allein genommen, kein zuverläßiges Zeichen der objektivischen Gleichheit, die wir in dem Urtheil denken. Diese Unzuverläßigkeit kann uns aus Empfindungen bekannt seyn, oder aus Betrach- tungen allgemeiner Begriffe, die aber alsdenn gemeinig- lich schon in uns durch einzelne Erfahrungen erläutert und bestätiget worden sind. Wir haben es aus Erfah- rungen erlernet, daß zwey Dinge in der Ferne gleich groß gesehen werden können, ohne es doch zu seyn. Wir könnten es ohne Erfahrung durch Raisonnement erkannt haben. Jndessen wo unsere vernünftige Einsicht mit einer größern Stärke über unsern Beyfall wirken soll, da ist es fast allemal nothwendig, daß die Unzuverläßig- keit von jener, auch in unsern Empfindungen gewahr- genommen werde. Selten hat unsere Ueberzeugung ohne diesen Umstand die nöthige Festigkeit.
Noch fünftens kommt uns hiebey diese Frage ent- gegen: ist das sinnliche Urtheil durch Uebung er- lernet? und wie weit und auf welche Art ist es solches? Der Gedanke nämlich von dem Verhältniß der Objekte, wovon man Vorstellungen in sich hat?
Der Cheßeldenische Blinde urtheilte nicht so gleich im Anfang über die Größen und Entfernungen der Sachen, die ihm vor Augen kamen. Er erlernete das Sehen erst nach und nach, er lernete sinnlich nach Gesichtsbil-
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der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
nichts dazwiſchen treten, und die Reflexion entweder zu- ruͤckhalten, oder ſie anders wohin lenken ſollte.
Viertens. Da, wo das ſinnliche Urtheil durch das vernuͤnftige aufgehoben wird, findet ſich, daß die Unrichtigkeit von jenem daher entſtanden ſey, „weil man „ein gewiſſes ſubjektiviſches Verhaͤltniß der Vor- „ſtellungen als ein zuverlaͤßiges Merkmal von dem „Verhaͤltniß der Objekte gebrauchet hatte, das doch „nicht zuverlaͤßig und hinreichend war.‟ Die gleiche Groͤße der Bilder im Auge, leitet in unſerm Beyſpiel das ſinnliche Urtheil, aber ſie iſt allein genommen, kein zuverlaͤßiges Zeichen der objektiviſchen Gleichheit, die wir in dem Urtheil denken. Dieſe Unzuverlaͤßigkeit kann uns aus Empfindungen bekannt ſeyn, oder aus Betrach- tungen allgemeiner Begriffe, die aber alsdenn gemeinig- lich ſchon in uns durch einzelne Erfahrungen erlaͤutert und beſtaͤtiget worden ſind. Wir haben es aus Erfah- rungen erlernet, daß zwey Dinge in der Ferne gleich groß geſehen werden koͤnnen, ohne es doch zu ſeyn. Wir koͤnnten es ohne Erfahrung durch Raiſonnement erkannt haben. Jndeſſen wo unſere vernuͤnftige Einſicht mit einer groͤßern Staͤrke uͤber unſern Beyfall wirken ſoll, da iſt es faſt allemal nothwendig, daß die Unzuverlaͤßig- keit von jener, auch in unſern Empfindungen gewahr- genommen werde. Selten hat unſere Ueberzeugung ohne dieſen Umſtand die noͤthige Feſtigkeit.
Noch fuͤnftens kommt uns hiebey dieſe Frage ent- gegen: iſt das ſinnliche Urtheil durch Uebung er- lernet? und wie weit und auf welche Art iſt es ſolches? Der Gedanke naͤmlich von dem Verhaͤltniß der Objekte, wovon man Vorſtellungen in ſich hat?
Der Cheßeldeniſche Blinde urtheilte nicht ſo gleich im Anfang uͤber die Groͤßen und Entfernungen der Sachen, die ihm vor Augen kamen. Er erlernete das Sehen erſt nach und nach, er lernete ſinnlich nach Geſichtsbil-
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der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
nichts dazwiſchen treten, und die Reflexion entweder zu-
ruͤckhalten, oder ſie anders wohin lenken ſollte.
Viertens. Da, wo das ſinnliche Urtheil durch
das vernuͤnftige aufgehoben wird, findet ſich, daß die
Unrichtigkeit von jenem daher entſtanden ſey, „weil man
„ein gewiſſes ſubjektiviſches Verhaͤltniß der Vor-
„ſtellungen als ein zuverlaͤßiges Merkmal von dem
„Verhaͤltniß der Objekte gebrauchet hatte, das doch
„nicht zuverlaͤßig und hinreichend war.‟ Die gleiche
Groͤße der Bilder im Auge, leitet in unſerm Beyſpiel
das ſinnliche Urtheil, aber ſie iſt allein genommen, kein
zuverlaͤßiges Zeichen der objektiviſchen Gleichheit, die
wir in dem Urtheil denken. Dieſe Unzuverlaͤßigkeit kann
uns aus Empfindungen bekannt ſeyn, oder aus Betrach-
tungen allgemeiner Begriffe, die aber alsdenn gemeinig-
lich ſchon in uns durch einzelne Erfahrungen erlaͤutert
und beſtaͤtiget worden ſind. Wir haben es aus Erfah-
rungen erlernet, daß zwey Dinge in der Ferne gleich
groß geſehen werden koͤnnen, ohne es doch zu ſeyn. Wir
koͤnnten es ohne Erfahrung durch Raiſonnement erkannt
haben. Jndeſſen wo unſere vernuͤnftige Einſicht mit
einer groͤßern Staͤrke uͤber unſern Beyfall wirken ſoll,
da iſt es faſt allemal nothwendig, daß die Unzuverlaͤßig-
keit von jener, auch in unſern Empfindungen gewahr-
genommen werde. Selten hat unſere Ueberzeugung ohne
dieſen Umſtand die noͤthige Feſtigkeit.
Noch fuͤnftens kommt uns hiebey dieſe Frage ent-
gegen: iſt das ſinnliche Urtheil durch Uebung er-
lernet? und wie weit und auf welche Art iſt es ſolches?
Der Gedanke naͤmlich von dem Verhaͤltniß der Objekte,
wovon man Vorſtellungen in ſich hat?
Der Cheßeldeniſche Blinde urtheilte nicht ſo gleich im
Anfang uͤber die Groͤßen und Entfernungen der Sachen,
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/515>, abgerufen am 23.12.2024.
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