Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
der sinnlich. Kenntn. u. d. vernünftigen.

Wenn es dabey bleibet, so ist ein solches Urtheil ein
natürlicher und nothwendiger Ausbruch der Ur-
theilskraft. Warum wir bey einer solchen Beschaffen-
heit der Vorstellungen ein solches Verhältniß denken,
davon läßt sich kein weiterer Grund angeben, als daß
die Natur einer Denkkraft es so mit sich bringe. Jch
würde also ohne Bedenken mit Reid sagen, es sey eine
Wirkung eines Jnstinkts. Ohne Abänderung in dem
ganzen vollen Schein, oder wenigstens ohne eine meh-
rere oder mindere objektivische Klarheit in den einzelnen
Theilen desselben ist auch ein solches sinnliches Urtheil
unveränderlich.

Aber dieß ist nicht der ganze Jnhalt des sinnlichen
Gedankens.
Wir prädiciren von beiden eine gleiche
Größe, nicht blos in Hinsicht des Gesichts, das die
Objekte in der Ferne anschauet, sondern auch in Hin-
sicht unserer übrigen Empfindungen, auch in andern
Stellungen gegen diese Objekte. Sie sind gleich groß,
heißet so viel: Wenn wir sie auch in der Nähe sehen,
und sie befühlen würden, so würden die Gesichts- und
Gefühlsempfindungen von ihnen, in demjenigen Ver-
hältnisse gegen einander stehen, welche wir Gegenständen
beylegen, denen wir eine gleiche Größe im Umfang
zuschreiben. Es ist eine Association der Gleichheit
nach dem Gesicht
und der Gleichheit nach dem
Gefühl
vorhanden. Jene ist ursprünglich verbunden
mit den Empfindungen des Gesichts. Die letztere kommt
hinzu. Daraus entspringet in dem gegenwärtigen Fall
der Jrrthum.

Zweytens. Dieß sinnliche Urtheil ist eine Wirkung
der Denkkraft, welche das Verhältniß der Gleichheit
mit den Empfindungsvorstellungen, die sie vor sich hat,
verbindet, und dabey ihrer Natur und ihrem natürlichen
Denkungsgesetze dergestalt gemäß wirket, daß sie unter
den Umständen, unter denen sie hier urtheilet, nicht

anders
F f 3
der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.

Wenn es dabey bleibet, ſo iſt ein ſolches Urtheil ein
natuͤrlicher und nothwendiger Ausbruch der Ur-
theilskraft. Warum wir bey einer ſolchen Beſchaffen-
heit der Vorſtellungen ein ſolches Verhaͤltniß denken,
davon laͤßt ſich kein weiterer Grund angeben, als daß
die Natur einer Denkkraft es ſo mit ſich bringe. Jch
wuͤrde alſo ohne Bedenken mit Reid ſagen, es ſey eine
Wirkung eines Jnſtinkts. Ohne Abaͤnderung in dem
ganzen vollen Schein, oder wenigſtens ohne eine meh-
rere oder mindere objektiviſche Klarheit in den einzelnen
Theilen deſſelben iſt auch ein ſolches ſinnliches Urtheil
unveraͤnderlich.

Aber dieß iſt nicht der ganze Jnhalt des ſinnlichen
Gedankens.
Wir praͤdiciren von beiden eine gleiche
Groͤße, nicht blos in Hinſicht des Geſichts, das die
Objekte in der Ferne anſchauet, ſondern auch in Hin-
ſicht unſerer uͤbrigen Empfindungen, auch in andern
Stellungen gegen dieſe Objekte. Sie ſind gleich groß,
heißet ſo viel: Wenn wir ſie auch in der Naͤhe ſehen,
und ſie befuͤhlen wuͤrden, ſo wuͤrden die Geſichts- und
Gefuͤhlsempfindungen von ihnen, in demjenigen Ver-
haͤltniſſe gegen einander ſtehen, welche wir Gegenſtaͤnden
beylegen, denen wir eine gleiche Groͤße im Umfang
zuſchreiben. Es iſt eine Aſſociation der Gleichheit
nach dem Geſicht
und der Gleichheit nach dem
Gefuͤhl
vorhanden. Jene iſt urſpruͤnglich verbunden
mit den Empfindungen des Geſichts. Die letztere kommt
hinzu. Daraus entſpringet in dem gegenwaͤrtigen Fall
der Jrrthum.

Zweytens. Dieß ſinnliche Urtheil iſt eine Wirkung
der Denkkraft, welche das Verhaͤltniß der Gleichheit
mit den Empfindungsvorſtellungen, die ſie vor ſich hat,
verbindet, und dabey ihrer Natur und ihrem natuͤrlichen
Denkungsgeſetze dergeſtalt gemaͤß wirket, daß ſie unter
den Umſtaͤnden, unter denen ſie hier urtheilet, nicht

anders
F f 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0513" n="453"/>
            <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">der &#x017F;innlich. Kenntn. u. d. vernu&#x0364;nftigen.</hi> </fw><lb/>
            <p>Wenn es dabey bleibet, &#x017F;o i&#x017F;t ein &#x017F;olches Urtheil ein<lb/><hi rendition="#fr">natu&#x0364;rlicher</hi> und <hi rendition="#fr">nothwendiger</hi> Ausbruch der Ur-<lb/>
theilskraft. Warum wir bey einer &#x017F;olchen Be&#x017F;chaffen-<lb/>
heit der Vor&#x017F;tellungen ein &#x017F;olches Verha&#x0364;ltniß denken,<lb/>
davon la&#x0364;ßt &#x017F;ich kein weiterer Grund angeben, als daß<lb/>
die Natur einer Denkkraft es &#x017F;o mit &#x017F;ich bringe. Jch<lb/>
wu&#x0364;rde al&#x017F;o ohne Bedenken mit <hi rendition="#fr">Reid</hi> &#x017F;agen, es &#x017F;ey eine<lb/>
Wirkung eines <hi rendition="#fr">Jn&#x017F;tinkts.</hi> Ohne Aba&#x0364;nderung in dem<lb/>
ganzen vollen Schein, oder wenig&#x017F;tens ohne eine meh-<lb/>
rere oder mindere objektivi&#x017F;che Klarheit in den einzelnen<lb/>
Theilen de&#x017F;&#x017F;elben i&#x017F;t auch ein &#x017F;olches &#x017F;innliches Urtheil<lb/><hi rendition="#fr">unvera&#x0364;nderlich.</hi></p><lb/>
            <p>Aber dieß i&#x017F;t nicht der ganze Jnhalt des <hi rendition="#fr">&#x017F;innlichen<lb/>
Gedankens.</hi> Wir pra&#x0364;diciren von beiden eine <hi rendition="#fr">gleiche</hi><lb/>
Gro&#x0364;ße, nicht blos in Hin&#x017F;icht des <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;ichts,</hi> das die<lb/>
Objekte <hi rendition="#fr">in der Ferne</hi> an&#x017F;chauet, &#x017F;ondern auch in Hin-<lb/>
&#x017F;icht un&#x017F;erer u&#x0364;brigen Empfindungen, auch in andern<lb/>
Stellungen gegen die&#x017F;e Objekte. Sie &#x017F;ind <hi rendition="#fr">gleich groß,</hi><lb/>
heißet &#x017F;o viel: Wenn wir &#x017F;ie auch in der Na&#x0364;he &#x017F;ehen,<lb/>
und &#x017F;ie befu&#x0364;hlen wu&#x0364;rden, &#x017F;o wu&#x0364;rden die Ge&#x017F;ichts- und<lb/>
Gefu&#x0364;hlsempfindungen von ihnen, in demjenigen Ver-<lb/>
ha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e gegen einander &#x017F;tehen, welche wir Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden<lb/>
beylegen, denen wir eine <hi rendition="#fr">gleiche Gro&#x0364;ße im Umfang</hi><lb/>
zu&#x017F;chreiben. Es i&#x017F;t eine A&#x017F;&#x017F;ociation der <hi rendition="#fr">Gleichheit<lb/>
nach dem Ge&#x017F;icht</hi> und der <hi rendition="#fr">Gleichheit nach dem<lb/>
Gefu&#x0364;hl</hi> vorhanden. Jene i&#x017F;t ur&#x017F;pru&#x0364;nglich verbunden<lb/>
mit den Empfindungen des Ge&#x017F;ichts. Die letztere kommt<lb/>
hinzu. Daraus ent&#x017F;pringet in dem gegenwa&#x0364;rtigen Fall<lb/>
der Jrrthum.</p><lb/>
            <p>Zweytens. Dieß &#x017F;innliche Urtheil i&#x017F;t eine Wirkung<lb/>
der Denkkraft, welche das Verha&#x0364;ltniß der <hi rendition="#fr">Gleichheit</hi><lb/>
mit den Empfindungsvor&#x017F;tellungen, die &#x017F;ie vor &#x017F;ich hat,<lb/>
verbindet, und dabey ihrer Natur und ihrem natu&#x0364;rlichen<lb/>
Denkungsge&#x017F;etze derge&#x017F;talt gema&#x0364;ß wirket, daß &#x017F;ie unter<lb/>
den Um&#x017F;ta&#x0364;nden, unter denen &#x017F;ie hier urtheilet, nicht<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">F f 3</fw><fw place="bottom" type="catch">anders</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[453/0513] der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen. Wenn es dabey bleibet, ſo iſt ein ſolches Urtheil ein natuͤrlicher und nothwendiger Ausbruch der Ur- theilskraft. Warum wir bey einer ſolchen Beſchaffen- heit der Vorſtellungen ein ſolches Verhaͤltniß denken, davon laͤßt ſich kein weiterer Grund angeben, als daß die Natur einer Denkkraft es ſo mit ſich bringe. Jch wuͤrde alſo ohne Bedenken mit Reid ſagen, es ſey eine Wirkung eines Jnſtinkts. Ohne Abaͤnderung in dem ganzen vollen Schein, oder wenigſtens ohne eine meh- rere oder mindere objektiviſche Klarheit in den einzelnen Theilen deſſelben iſt auch ein ſolches ſinnliches Urtheil unveraͤnderlich. Aber dieß iſt nicht der ganze Jnhalt des ſinnlichen Gedankens. Wir praͤdiciren von beiden eine gleiche Groͤße, nicht blos in Hinſicht des Geſichts, das die Objekte in der Ferne anſchauet, ſondern auch in Hin- ſicht unſerer uͤbrigen Empfindungen, auch in andern Stellungen gegen dieſe Objekte. Sie ſind gleich groß, heißet ſo viel: Wenn wir ſie auch in der Naͤhe ſehen, und ſie befuͤhlen wuͤrden, ſo wuͤrden die Geſichts- und Gefuͤhlsempfindungen von ihnen, in demjenigen Ver- haͤltniſſe gegen einander ſtehen, welche wir Gegenſtaͤnden beylegen, denen wir eine gleiche Groͤße im Umfang zuſchreiben. Es iſt eine Aſſociation der Gleichheit nach dem Geſicht und der Gleichheit nach dem Gefuͤhl vorhanden. Jene iſt urſpruͤnglich verbunden mit den Empfindungen des Geſichts. Die letztere kommt hinzu. Daraus entſpringet in dem gegenwaͤrtigen Fall der Jrrthum. Zweytens. Dieß ſinnliche Urtheil iſt eine Wirkung der Denkkraft, welche das Verhaͤltniß der Gleichheit mit den Empfindungsvorſtellungen, die ſie vor ſich hat, verbindet, und dabey ihrer Natur und ihrem natuͤrlichen Denkungsgeſetze dergeſtalt gemaͤß wirket, daß ſie unter den Umſtaͤnden, unter denen ſie hier urtheilet, nicht anders F f 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/513
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/513>, abgerufen am 25.11.2024.