Wenn es dabey bleibet, so ist ein solches Urtheil ein natürlicher und nothwendiger Ausbruch der Ur- theilskraft. Warum wir bey einer solchen Beschaffen- heit der Vorstellungen ein solches Verhältniß denken, davon läßt sich kein weiterer Grund angeben, als daß die Natur einer Denkkraft es so mit sich bringe. Jch würde also ohne Bedenken mit Reid sagen, es sey eine Wirkung eines Jnstinkts. Ohne Abänderung in dem ganzen vollen Schein, oder wenigstens ohne eine meh- rere oder mindere objektivische Klarheit in den einzelnen Theilen desselben ist auch ein solches sinnliches Urtheil unveränderlich.
Aber dieß ist nicht der ganze Jnhalt des sinnlichen Gedankens. Wir prädiciren von beiden eine gleiche Größe, nicht blos in Hinsicht des Gesichts, das die Objekte in der Ferne anschauet, sondern auch in Hin- sicht unserer übrigen Empfindungen, auch in andern Stellungen gegen diese Objekte. Sie sind gleich groß, heißet so viel: Wenn wir sie auch in der Nähe sehen, und sie befühlen würden, so würden die Gesichts- und Gefühlsempfindungen von ihnen, in demjenigen Ver- hältnisse gegen einander stehen, welche wir Gegenständen beylegen, denen wir eine gleiche Größe im Umfang zuschreiben. Es ist eine Association der Gleichheit nach dem Gesicht und der Gleichheit nach dem Gefühl vorhanden. Jene ist ursprünglich verbunden mit den Empfindungen des Gesichts. Die letztere kommt hinzu. Daraus entspringet in dem gegenwärtigen Fall der Jrrthum.
Zweytens. Dieß sinnliche Urtheil ist eine Wirkung der Denkkraft, welche das Verhältniß der Gleichheit mit den Empfindungsvorstellungen, die sie vor sich hat, verbindet, und dabey ihrer Natur und ihrem natürlichen Denkungsgesetze dergestalt gemäß wirket, daß sie unter den Umständen, unter denen sie hier urtheilet, nicht
anders
F f 3
der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
Wenn es dabey bleibet, ſo iſt ein ſolches Urtheil ein natuͤrlicher und nothwendiger Ausbruch der Ur- theilskraft. Warum wir bey einer ſolchen Beſchaffen- heit der Vorſtellungen ein ſolches Verhaͤltniß denken, davon laͤßt ſich kein weiterer Grund angeben, als daß die Natur einer Denkkraft es ſo mit ſich bringe. Jch wuͤrde alſo ohne Bedenken mit Reid ſagen, es ſey eine Wirkung eines Jnſtinkts. Ohne Abaͤnderung in dem ganzen vollen Schein, oder wenigſtens ohne eine meh- rere oder mindere objektiviſche Klarheit in den einzelnen Theilen deſſelben iſt auch ein ſolches ſinnliches Urtheil unveraͤnderlich.
Aber dieß iſt nicht der ganze Jnhalt des ſinnlichen Gedankens. Wir praͤdiciren von beiden eine gleiche Groͤße, nicht blos in Hinſicht des Geſichts, das die Objekte in der Ferne anſchauet, ſondern auch in Hin- ſicht unſerer uͤbrigen Empfindungen, auch in andern Stellungen gegen dieſe Objekte. Sie ſind gleich groß, heißet ſo viel: Wenn wir ſie auch in der Naͤhe ſehen, und ſie befuͤhlen wuͤrden, ſo wuͤrden die Geſichts- und Gefuͤhlsempfindungen von ihnen, in demjenigen Ver- haͤltniſſe gegen einander ſtehen, welche wir Gegenſtaͤnden beylegen, denen wir eine gleiche Groͤße im Umfang zuſchreiben. Es iſt eine Aſſociation der Gleichheit nach dem Geſicht und der Gleichheit nach dem Gefuͤhl vorhanden. Jene iſt urſpruͤnglich verbunden mit den Empfindungen des Geſichts. Die letztere kommt hinzu. Daraus entſpringet in dem gegenwaͤrtigen Fall der Jrrthum.
Zweytens. Dieß ſinnliche Urtheil iſt eine Wirkung der Denkkraft, welche das Verhaͤltniß der Gleichheit mit den Empfindungsvorſtellungen, die ſie vor ſich hat, verbindet, und dabey ihrer Natur und ihrem natuͤrlichen Denkungsgeſetze dergeſtalt gemaͤß wirket, daß ſie unter den Umſtaͤnden, unter denen ſie hier urtheilet, nicht
anders
F f 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0513"n="453"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.</hi></fw><lb/><p>Wenn es dabey bleibet, ſo iſt ein ſolches Urtheil ein<lb/><hirendition="#fr">natuͤrlicher</hi> und <hirendition="#fr">nothwendiger</hi> Ausbruch der Ur-<lb/>
theilskraft. Warum wir bey einer ſolchen Beſchaffen-<lb/>
heit der Vorſtellungen ein ſolches Verhaͤltniß denken,<lb/>
davon laͤßt ſich kein weiterer Grund angeben, als daß<lb/>
die Natur einer Denkkraft es ſo mit ſich bringe. Jch<lb/>
wuͤrde alſo ohne Bedenken mit <hirendition="#fr">Reid</hi>ſagen, es ſey eine<lb/>
Wirkung eines <hirendition="#fr">Jnſtinkts.</hi> Ohne Abaͤnderung in dem<lb/>
ganzen vollen Schein, oder wenigſtens ohne eine meh-<lb/>
rere oder mindere objektiviſche Klarheit in den einzelnen<lb/>
Theilen deſſelben iſt auch ein ſolches ſinnliches Urtheil<lb/><hirendition="#fr">unveraͤnderlich.</hi></p><lb/><p>Aber dieß iſt nicht der ganze Jnhalt des <hirendition="#fr">ſinnlichen<lb/>
Gedankens.</hi> Wir praͤdiciren von beiden eine <hirendition="#fr">gleiche</hi><lb/>
Groͤße, nicht blos in Hinſicht des <hirendition="#fr">Geſichts,</hi> das die<lb/>
Objekte <hirendition="#fr">in der Ferne</hi> anſchauet, ſondern auch in Hin-<lb/>ſicht unſerer uͤbrigen Empfindungen, auch in andern<lb/>
Stellungen gegen dieſe Objekte. Sie ſind <hirendition="#fr">gleich groß,</hi><lb/>
heißet ſo viel: Wenn wir ſie auch in der Naͤhe ſehen,<lb/>
und ſie befuͤhlen wuͤrden, ſo wuͤrden die Geſichts- und<lb/>
Gefuͤhlsempfindungen von ihnen, in demjenigen Ver-<lb/>
haͤltniſſe gegen einander ſtehen, welche wir Gegenſtaͤnden<lb/>
beylegen, denen wir eine <hirendition="#fr">gleiche Groͤße im Umfang</hi><lb/>
zuſchreiben. Es iſt eine Aſſociation der <hirendition="#fr">Gleichheit<lb/>
nach dem Geſicht</hi> und der <hirendition="#fr">Gleichheit nach dem<lb/>
Gefuͤhl</hi> vorhanden. Jene iſt urſpruͤnglich verbunden<lb/>
mit den Empfindungen des Geſichts. Die letztere kommt<lb/>
hinzu. Daraus entſpringet in dem gegenwaͤrtigen Fall<lb/>
der Jrrthum.</p><lb/><p>Zweytens. Dieß ſinnliche Urtheil iſt eine Wirkung<lb/>
der Denkkraft, welche das Verhaͤltniß der <hirendition="#fr">Gleichheit</hi><lb/>
mit den Empfindungsvorſtellungen, die ſie vor ſich hat,<lb/>
verbindet, und dabey ihrer Natur und ihrem natuͤrlichen<lb/>
Denkungsgeſetze dergeſtalt gemaͤß wirket, daß ſie unter<lb/>
den Umſtaͤnden, unter denen ſie hier urtheilet, nicht<lb/><fwplace="bottom"type="sig">F f 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">anders</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[453/0513]
der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
Wenn es dabey bleibet, ſo iſt ein ſolches Urtheil ein
natuͤrlicher und nothwendiger Ausbruch der Ur-
theilskraft. Warum wir bey einer ſolchen Beſchaffen-
heit der Vorſtellungen ein ſolches Verhaͤltniß denken,
davon laͤßt ſich kein weiterer Grund angeben, als daß
die Natur einer Denkkraft es ſo mit ſich bringe. Jch
wuͤrde alſo ohne Bedenken mit Reid ſagen, es ſey eine
Wirkung eines Jnſtinkts. Ohne Abaͤnderung in dem
ganzen vollen Schein, oder wenigſtens ohne eine meh-
rere oder mindere objektiviſche Klarheit in den einzelnen
Theilen deſſelben iſt auch ein ſolches ſinnliches Urtheil
unveraͤnderlich.
Aber dieß iſt nicht der ganze Jnhalt des ſinnlichen
Gedankens. Wir praͤdiciren von beiden eine gleiche
Groͤße, nicht blos in Hinſicht des Geſichts, das die
Objekte in der Ferne anſchauet, ſondern auch in Hin-
ſicht unſerer uͤbrigen Empfindungen, auch in andern
Stellungen gegen dieſe Objekte. Sie ſind gleich groß,
heißet ſo viel: Wenn wir ſie auch in der Naͤhe ſehen,
und ſie befuͤhlen wuͤrden, ſo wuͤrden die Geſichts- und
Gefuͤhlsempfindungen von ihnen, in demjenigen Ver-
haͤltniſſe gegen einander ſtehen, welche wir Gegenſtaͤnden
beylegen, denen wir eine gleiche Groͤße im Umfang
zuſchreiben. Es iſt eine Aſſociation der Gleichheit
nach dem Geſicht und der Gleichheit nach dem
Gefuͤhl vorhanden. Jene iſt urſpruͤnglich verbunden
mit den Empfindungen des Geſichts. Die letztere kommt
hinzu. Daraus entſpringet in dem gegenwaͤrtigen Fall
der Jrrthum.
Zweytens. Dieß ſinnliche Urtheil iſt eine Wirkung
der Denkkraft, welche das Verhaͤltniß der Gleichheit
mit den Empfindungsvorſtellungen, die ſie vor ſich hat,
verbindet, und dabey ihrer Natur und ihrem natuͤrlichen
Denkungsgeſetze dergeſtalt gemaͤß wirket, daß ſie unter
den Umſtaͤnden, unter denen ſie hier urtheilet, nicht
anders
F f 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/513>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.