Darum haben die folgenden beiden Sätze einerley Sinn, und sind beide in demselbigen Verstande reine Erfahrungssätze. Jch sehe den Thurm in der Weite von dreyhundert Fuß, viel größer, als meinen Finger, mit dem ich ihn bedecken kann; und der andere Satz: ich sehe diesen Thurm in der Nähe größer als meinen Finger, wo ich ihn durch diesen, wenn letzterer in der- selbigen Entfernung von dem Auge gehalten wird, nicht bedecken kann. Jn beiden Fällen ist die ganze Jmpres- sion von dem Thurm durch die Augen ein größerer sinn- licher Eindruck, obgleich das Bild auf der Netzhaut, das ich nicht empfinde, und von dem ich aus der Em- pfindung allein nicht einmal weis, daß es da ist, in der letztern größer seyn mag. Jn beiden ist also auch ein größerer Aktus des Gefühls von dem Thurm als von dem Finger, weil in dem einem Fall das Gefühl der Entfernung hinzukommt; und also empfinde und sehe ich in beiden Fällen den Thurm viel größer als meinen Finger.
Wenn ich sagte, ich hätte in der Ferne von dem Thurm ein größeres Bild auf der Netzhaut, als von mei- nem Finger, der ihn decket, so wäre dieß eine falsche Erfahrung; und wenn ich sagte, ich hätte so ein Bild von ihm, als ich in der Nähe von etlichen Schritten von ihm haben würde, so ist das auch falsch. Man erin- nere sichs nur, wie ein solcher Thurm wohl in der Nähe aussehen müßte, den man jetzo in der Ferne siehet, so lehret es die Vergleichung dieser letztern Vorstellung mit der gegenwärtigen Jmpression, daß diese ein solches Bild nicht in sich enthalte. Dagegen wenn ich nur sa- ge; ich sehe den Thurm größer; ich habe in mei- nem gegenwärtigen Eindruck von ihm einen Zug oder eine Beschaffenheit, die ich fühle, welche das ist, was in andern Fällen, die sichtliche Größe heißet, so sage ich eine reine Beobachtung aus.
Hier
der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
Darum haben die folgenden beiden Saͤtze einerley Sinn, und ſind beide in demſelbigen Verſtande reine Erfahrungsſaͤtze. Jch ſehe den Thurm in der Weite von dreyhundert Fuß, viel groͤßer, als meinen Finger, mit dem ich ihn bedecken kann; und der andere Satz: ich ſehe dieſen Thurm in der Naͤhe groͤßer als meinen Finger, wo ich ihn durch dieſen, wenn letzterer in der- ſelbigen Entfernung von dem Auge gehalten wird, nicht bedecken kann. Jn beiden Faͤllen iſt die ganze Jmpreſ- ſion von dem Thurm durch die Augen ein groͤßerer ſinn- licher Eindruck, obgleich das Bild auf der Netzhaut, das ich nicht empfinde, und von dem ich aus der Em- pfindung allein nicht einmal weis, daß es da iſt, in der letztern groͤßer ſeyn mag. Jn beiden iſt alſo auch ein groͤßerer Aktus des Gefuͤhls von dem Thurm als von dem Finger, weil in dem einem Fall das Gefuͤhl der Entfernung hinzukommt; und alſo empfinde und ſehe ich in beiden Faͤllen den Thurm viel groͤßer als meinen Finger.
Wenn ich ſagte, ich haͤtte in der Ferne von dem Thurm ein groͤßeres Bild auf der Netzhaut, als von mei- nem Finger, der ihn decket, ſo waͤre dieß eine falſche Erfahrung; und wenn ich ſagte, ich haͤtte ſo ein Bild von ihm, als ich in der Naͤhe von etlichen Schritten von ihm haben wuͤrde, ſo iſt das auch falſch. Man erin- nere ſichs nur, wie ein ſolcher Thurm wohl in der Naͤhe ausſehen muͤßte, den man jetzo in der Ferne ſiehet, ſo lehret es die Vergleichung dieſer letztern Vorſtellung mit der gegenwaͤrtigen Jmpreſſion, daß dieſe ein ſolches Bild nicht in ſich enthalte. Dagegen wenn ich nur ſa- ge; ich ſehe den Thurm groͤßer; ich habe in mei- nem gegenwaͤrtigen Eindruck von ihm einen Zug oder eine Beſchaffenheit, die ich fuͤhle, welche das iſt, was in andern Faͤllen, die ſichtliche Groͤße heißet, ſo ſage ich eine reine Beobachtung aus.
Hier
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[447/0507]
der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
Darum haben die folgenden beiden Saͤtze einerley
Sinn, und ſind beide in demſelbigen Verſtande reine
Erfahrungsſaͤtze. Jch ſehe den Thurm in der Weite
von dreyhundert Fuß, viel groͤßer, als meinen Finger,
mit dem ich ihn bedecken kann; und der andere Satz:
ich ſehe dieſen Thurm in der Naͤhe groͤßer als meinen
Finger, wo ich ihn durch dieſen, wenn letzterer in der-
ſelbigen Entfernung von dem Auge gehalten wird, nicht
bedecken kann. Jn beiden Faͤllen iſt die ganze Jmpreſ-
ſion von dem Thurm durch die Augen ein groͤßerer ſinn-
licher Eindruck, obgleich das Bild auf der Netzhaut,
das ich nicht empfinde, und von dem ich aus der Em-
pfindung allein nicht einmal weis, daß es da iſt, in der
letztern groͤßer ſeyn mag. Jn beiden iſt alſo auch ein
groͤßerer Aktus des Gefuͤhls von dem Thurm als von
dem Finger, weil in dem einem Fall das Gefuͤhl der
Entfernung hinzukommt; und alſo empfinde und ſehe
ich in beiden Faͤllen den Thurm viel groͤßer als meinen
Finger.
Wenn ich ſagte, ich haͤtte in der Ferne von dem
Thurm ein groͤßeres Bild auf der Netzhaut, als von mei-
nem Finger, der ihn decket, ſo waͤre dieß eine falſche
Erfahrung; und wenn ich ſagte, ich haͤtte ſo ein Bild
von ihm, als ich in der Naͤhe von etlichen Schritten von
ihm haben wuͤrde, ſo iſt das auch falſch. Man erin-
nere ſichs nur, wie ein ſolcher Thurm wohl in der Naͤhe
ausſehen muͤßte, den man jetzo in der Ferne ſiehet, ſo
lehret es die Vergleichung dieſer letztern Vorſtellung mit
der gegenwaͤrtigen Jmpreſſion, daß dieſe ein ſolches
Bild nicht in ſich enthalte. Dagegen wenn ich nur ſa-
ge; ich ſehe den Thurm groͤßer; ich habe in mei-
nem gegenwaͤrtigen Eindruck von ihm einen Zug oder
eine Beſchaffenheit, die ich fuͤhle, welche das iſt, was
in andern Faͤllen, die ſichtliche Groͤße heißet, ſo ſage
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/507>, abgerufen am 22.11.2024.
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