Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

VI. Versuch. Ueber den Unterschied
ursprünglich den Gemeinbegriff von der sichtlichen
Größe
hergegeben haben.

Aber dabey ist es nicht geblieben. Dieser Begriff
ist nachher noch allgemeiner geworden, so daß er nun auch
die Abstraktion aus der zwoten Empfindung der Sache,
unter einem kleinern Winkel in einer größern Entfernung,
unter sich begreift. Da wo die Jmpression von der
Entfernung, zugleich mit der Jmpression von dem
Objekt selbst, als ein Zug der ganzen Jmpression ge-
fühlet und wahrgenommen wird, da ist das Gefühl die-
ser Jmpression ein größerer Aktus des Empfin-
dens,
der sich mit dem Gegenstand beschäftiget. Diese
Größe, Länge und Breite des Gefühls- oder des
Empfindungsaktus ist überhaupt das Bild der sicht-
lichen Größe
geworden. Auch anfangs, als noch der
größere optische Winkel, und die Größe des Bildes auf
der Netzhaut, die Vorstellung von der relativen sichtli-
chen Größe war, ist es doch dieselbige relative Größe
des Empfindungsaktus gewesen, die der Zeit von der
Größe des Bildes im Auge allein abhieng, welche eigent-
lich
und unmittelbar den Schein der sichtlichen
Größe,
ausmachte.

Jch habe es ziemlich in meiner Gewalt, Objekte
größer und kleiner zu sehen, je nachdem ich sie als ent-
ferntere oder nähere zu sehen, mich bemühe; und dieß ist
am leichtesten, wo es andere Gegenstände giebt, bey de-
nen ich sie hinsetzen kann. Aber ich fühle jedesmal et-
was mehr, wenn ich dieselbige Sache unter demselbigen
Sehewinkel, als weiter abstehend sehe. Der Aktus
des Sehens erhält einen Zusatz, dessen ich mir völlig be-
wußt bin, und der mit der Empfindung des Objekts
verbunden wird, dieser Zusatz mag seinen Ursprung ha-
ben, woher er wolle. Er ist auch etwas in der Jm-
pression selbst.

Darum

VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
urſpruͤnglich den Gemeinbegriff von der ſichtlichen
Groͤße
hergegeben haben.

Aber dabey iſt es nicht geblieben. Dieſer Begriff
iſt nachher noch allgemeiner geworden, ſo daß er nun auch
die Abſtraktion aus der zwoten Empfindung der Sache,
unter einem kleinern Winkel in einer groͤßern Entfernung,
unter ſich begreift. Da wo die Jmpreſſion von der
Entfernung, zugleich mit der Jmpreſſion von dem
Objekt ſelbſt, als ein Zug der ganzen Jmpreſſion ge-
fuͤhlet und wahrgenommen wird, da iſt das Gefuͤhl die-
ſer Jmpreſſion ein groͤßerer Aktus des Empfin-
dens,
der ſich mit dem Gegenſtand beſchaͤftiget. Dieſe
Groͤße, Laͤnge und Breite des Gefuͤhls- oder des
Empfindungsaktus iſt uͤberhaupt das Bild der ſicht-
lichen Groͤße
geworden. Auch anfangs, als noch der
groͤßere optiſche Winkel, und die Groͤße des Bildes auf
der Netzhaut, die Vorſtellung von der relativen ſichtli-
chen Groͤße war, iſt es doch dieſelbige relative Groͤße
des Empfindungsaktus geweſen, die der Zeit von der
Groͤße des Bildes im Auge allein abhieng, welche eigent-
lich
und unmittelbar den Schein der ſichtlichen
Groͤße,
ausmachte.

Jch habe es ziemlich in meiner Gewalt, Objekte
groͤßer und kleiner zu ſehen, je nachdem ich ſie als ent-
ferntere oder naͤhere zu ſehen, mich bemuͤhe; und dieß iſt
am leichteſten, wo es andere Gegenſtaͤnde giebt, bey de-
nen ich ſie hinſetzen kann. Aber ich fuͤhle jedesmal et-
was mehr, wenn ich dieſelbige Sache unter demſelbigen
Sehewinkel, als weiter abſtehend ſehe. Der Aktus
des Sehens erhaͤlt einen Zuſatz, deſſen ich mir voͤllig be-
wußt bin, und der mit der Empfindung des Objekts
verbunden wird, dieſer Zuſatz mag ſeinen Urſprung ha-
ben, woher er wolle. Er iſt auch etwas in der Jm-
preſſion ſelbſt.

Darum
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0506" n="446"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber den Unter&#x017F;chied</hi></fw><lb/>
ur&#x017F;pru&#x0364;nglich den <hi rendition="#fr">Gemeinbegriff von der &#x017F;ichtlichen<lb/>
Gro&#x0364;ße</hi> hergegeben haben.</p><lb/>
            <p>Aber dabey i&#x017F;t es nicht geblieben. Die&#x017F;er Begriff<lb/>
i&#x017F;t nachher noch allgemeiner geworden, &#x017F;o daß er nun auch<lb/>
die Ab&#x017F;traktion aus der zwoten Empfindung der Sache,<lb/>
unter einem kleinern Winkel in einer gro&#x0364;ßern Entfernung,<lb/>
unter &#x017F;ich begreift. Da wo die Jmpre&#x017F;&#x017F;ion von der<lb/><hi rendition="#fr">Entfernung,</hi> zugleich mit der Jmpre&#x017F;&#x017F;ion von dem<lb/><hi rendition="#fr">Objekt</hi> &#x017F;elb&#x017F;t, als ein Zug der <hi rendition="#fr">ganzen</hi> Jmpre&#x017F;&#x017F;ion ge-<lb/>
fu&#x0364;hlet und wahrgenommen wird, da i&#x017F;t das Gefu&#x0364;hl die-<lb/>
&#x017F;er Jmpre&#x017F;&#x017F;ion ein <hi rendition="#fr">gro&#x0364;ßerer Aktus des Empfin-<lb/>
dens,</hi> der &#x017F;ich mit dem Gegen&#x017F;tand be&#x017F;cha&#x0364;ftiget. Die&#x017F;e<lb/>
Gro&#x0364;ße, La&#x0364;nge und Breite des <hi rendition="#fr">Gefu&#x0364;hls</hi>- oder des<lb/><hi rendition="#fr">Empfindungsaktus</hi> i&#x017F;t u&#x0364;berhaupt das Bild <hi rendition="#fr">der &#x017F;icht-<lb/>
lichen Gro&#x0364;ße</hi> geworden. Auch anfangs, als noch der<lb/>
gro&#x0364;ßere opti&#x017F;che Winkel, und die Gro&#x0364;ße des Bildes auf<lb/>
der Netzhaut, die Vor&#x017F;tellung von der relativen &#x017F;ichtli-<lb/>
chen Gro&#x0364;ße war, i&#x017F;t es doch die&#x017F;elbige relative Gro&#x0364;ße<lb/>
des Empfindungsaktus gewe&#x017F;en, die der Zeit von der<lb/>
Gro&#x0364;ße des Bildes im Auge allein abhieng, welche <hi rendition="#fr">eigent-<lb/>
lich</hi> und <hi rendition="#fr">unmittelbar den Schein der &#x017F;ichtlichen<lb/>
Gro&#x0364;ße,</hi> ausmachte.</p><lb/>
            <p>Jch habe es ziemlich in meiner Gewalt, Objekte<lb/>
gro&#x0364;ßer und kleiner zu &#x017F;ehen, je nachdem ich &#x017F;ie als ent-<lb/>
ferntere oder na&#x0364;here zu &#x017F;ehen, mich bemu&#x0364;he; und dieß i&#x017F;t<lb/>
am leichte&#x017F;ten, wo es andere Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde giebt, bey de-<lb/>
nen ich &#x017F;ie hin&#x017F;etzen kann. Aber ich fu&#x0364;hle jedesmal et-<lb/>
was mehr, wenn ich die&#x017F;elbige Sache unter dem&#x017F;elbigen<lb/>
Sehewinkel, als <hi rendition="#fr">weiter ab&#x017F;tehend</hi> &#x017F;ehe. Der Aktus<lb/>
des Sehens erha&#x0364;lt einen Zu&#x017F;atz, de&#x017F;&#x017F;en ich mir vo&#x0364;llig be-<lb/>
wußt bin, und der mit der Empfindung des Objekts<lb/>
verbunden wird, die&#x017F;er Zu&#x017F;atz mag &#x017F;einen Ur&#x017F;prung ha-<lb/>
ben, woher er wolle. Er i&#x017F;t auch etwas in der Jm-<lb/>
pre&#x017F;&#x017F;ion &#x017F;elb&#x017F;t.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Darum</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[446/0506] VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied urſpruͤnglich den Gemeinbegriff von der ſichtlichen Groͤße hergegeben haben. Aber dabey iſt es nicht geblieben. Dieſer Begriff iſt nachher noch allgemeiner geworden, ſo daß er nun auch die Abſtraktion aus der zwoten Empfindung der Sache, unter einem kleinern Winkel in einer groͤßern Entfernung, unter ſich begreift. Da wo die Jmpreſſion von der Entfernung, zugleich mit der Jmpreſſion von dem Objekt ſelbſt, als ein Zug der ganzen Jmpreſſion ge- fuͤhlet und wahrgenommen wird, da iſt das Gefuͤhl die- ſer Jmpreſſion ein groͤßerer Aktus des Empfin- dens, der ſich mit dem Gegenſtand beſchaͤftiget. Dieſe Groͤße, Laͤnge und Breite des Gefuͤhls- oder des Empfindungsaktus iſt uͤberhaupt das Bild der ſicht- lichen Groͤße geworden. Auch anfangs, als noch der groͤßere optiſche Winkel, und die Groͤße des Bildes auf der Netzhaut, die Vorſtellung von der relativen ſichtli- chen Groͤße war, iſt es doch dieſelbige relative Groͤße des Empfindungsaktus geweſen, die der Zeit von der Groͤße des Bildes im Auge allein abhieng, welche eigent- lich und unmittelbar den Schein der ſichtlichen Groͤße, ausmachte. Jch habe es ziemlich in meiner Gewalt, Objekte groͤßer und kleiner zu ſehen, je nachdem ich ſie als ent- ferntere oder naͤhere zu ſehen, mich bemuͤhe; und dieß iſt am leichteſten, wo es andere Gegenſtaͤnde giebt, bey de- nen ich ſie hinſetzen kann. Aber ich fuͤhle jedesmal et- was mehr, wenn ich dieſelbige Sache unter demſelbigen Sehewinkel, als weiter abſtehend ſehe. Der Aktus des Sehens erhaͤlt einen Zuſatz, deſſen ich mir voͤllig be- wußt bin, und der mit der Empfindung des Objekts verbunden wird, dieſer Zuſatz mag ſeinen Urſprung ha- ben, woher er wolle. Er iſt auch etwas in der Jm- preſſion ſelbſt. Darum

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/506
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/506>, abgerufen am 22.11.2024.