daß wir das empfinden, was wir als gegenwärtig mit klarem Bewußtseyn in uns gewahrnehmen.
Dem Skeptiker brauchten wir darum noch die Zu- verlässigkeit der Empfindungen nicht aufzuopfern, wenn gleich eingestanden werden müßte, daß eine solche sub- jektivische Gewißheit nicht bey allen einzelnen behauptet werden könne. Es muß doch zugegeben werden, daß es in einigen Fällen so schwer sey, die gegenwärtige Em- pfindung von den begleitenden Vorstellungen zu unter- scheiden, daß man solches fast so gut als für unmöglich ansehen kann. Müßte man nun, in Hinsicht der Ge- sichtsempfindungen von der sichtlichen Größe der Körper, zugeben, daß sie uns über die Beschaffenheit der gegen- wärtigen Jmpressionen in Zweifel lassen, so folget dar- aus noch keinesweges, daß wir nicht durch die Verglei- chung anderer gleichzeitiger Gefühlsempfindungen über die wahre Beschaffenheit der Jmpression zur Gewißheit kommen könnten. Der Sinn des Gesichts ist der mun- terste und der am meisten vorspringet, aber freylich auch der voreiligste, der uns ohne den berichtigenden Sinn des Gefühls oft der Gefahr aussetzet, etwas wie reine Empfindung anzunehmen, was es nicht ist.
Aber es wäre doch allerdings sehr viel, wenn die Größe in einem Thurm, den ich in der Entfernung von einigen hundert Schritten als einen großen Gegenstand von mir sehe, nichts als ein Phantasma aus einer Em- pfindung, die ich in der Nähe von ihm gehabt habe, seyn sollte. Jch sehe ihn doch größer. Und es ist ge- wiß falsch, daß ein Bild von dem Thurm aus der Nä- he, an meiner gegenwärtigen Jmpression, die ich in der Ferne von ihm habe, associiret seyn sollte. Denn wenn ich lebhaft mich erinnere, oder es mir vorstelle, wie so ein Thurm in der Nähe von etlichen Schritten wohl aus sehen würde, so merke ich deutlich, daß diese Vorstel- lung nicht diejenige ist, die ich gegenwärtig in meiner
Empfin-
VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
daß wir das empfinden, was wir als gegenwaͤrtig mit klarem Bewußtſeyn in uns gewahrnehmen.
Dem Skeptiker brauchten wir darum noch die Zu- verlaͤſſigkeit der Empfindungen nicht aufzuopfern, wenn gleich eingeſtanden werden muͤßte, daß eine ſolche ſub- jektiviſche Gewißheit nicht bey allen einzelnen behauptet werden koͤnne. Es muß doch zugegeben werden, daß es in einigen Faͤllen ſo ſchwer ſey, die gegenwaͤrtige Em- pfindung von den begleitenden Vorſtellungen zu unter- ſcheiden, daß man ſolches faſt ſo gut als fuͤr unmoͤglich anſehen kann. Muͤßte man nun, in Hinſicht der Ge- ſichtsempfindungen von der ſichtlichen Groͤße der Koͤrper, zugeben, daß ſie uns uͤber die Beſchaffenheit der gegen- waͤrtigen Jmpreſſionen in Zweifel laſſen, ſo folget dar- aus noch keinesweges, daß wir nicht durch die Verglei- chung anderer gleichzeitiger Gefuͤhlsempfindungen uͤber die wahre Beſchaffenheit der Jmpreſſion zur Gewißheit kommen koͤnnten. Der Sinn des Geſichts iſt der mun- terſte und der am meiſten vorſpringet, aber freylich auch der voreiligſte, der uns ohne den berichtigenden Sinn des Gefuͤhls oft der Gefahr ausſetzet, etwas wie reine Empfindung anzunehmen, was es nicht iſt.
Aber es waͤre doch allerdings ſehr viel, wenn die Groͤße in einem Thurm, den ich in der Entfernung von einigen hundert Schritten als einen großen Gegenſtand von mir ſehe, nichts als ein Phantasma aus einer Em- pfindung, die ich in der Naͤhe von ihm gehabt habe, ſeyn ſollte. Jch ſehe ihn doch groͤßer. Und es iſt ge- wiß falſch, daß ein Bild von dem Thurm aus der Naͤ- he, an meiner gegenwaͤrtigen Jmpreſſion, die ich in der Ferne von ihm habe, aſſociiret ſeyn ſollte. Denn wenn ich lebhaft mich erinnere, oder es mir vorſtelle, wie ſo ein Thurm in der Naͤhe von etlichen Schritten wohl aus ſehen wuͤrde, ſo merke ich deutlich, daß dieſe Vorſtel- lung nicht diejenige iſt, die ich gegenwaͤrtig in meiner
Empfin-
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VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
daß wir das empfinden, was wir als gegenwaͤrtig mit
klarem Bewußtſeyn in uns gewahrnehmen.
Dem Skeptiker brauchten wir darum noch die Zu-
verlaͤſſigkeit der Empfindungen nicht aufzuopfern, wenn
gleich eingeſtanden werden muͤßte, daß eine ſolche ſub-
jektiviſche Gewißheit nicht bey allen einzelnen behauptet
werden koͤnne. Es muß doch zugegeben werden, daß
es in einigen Faͤllen ſo ſchwer ſey, die gegenwaͤrtige Em-
pfindung von den begleitenden Vorſtellungen zu unter-
ſcheiden, daß man ſolches faſt ſo gut als fuͤr unmoͤglich
anſehen kann. Muͤßte man nun, in Hinſicht der Ge-
ſichtsempfindungen von der ſichtlichen Groͤße der Koͤrper,
zugeben, daß ſie uns uͤber die Beſchaffenheit der gegen-
waͤrtigen Jmpreſſionen in Zweifel laſſen, ſo folget dar-
aus noch keinesweges, daß wir nicht durch die Verglei-
chung anderer gleichzeitiger Gefuͤhlsempfindungen uͤber
die wahre Beſchaffenheit der Jmpreſſion zur Gewißheit
kommen koͤnnten. Der Sinn des Geſichts iſt der mun-
terſte und der am meiſten vorſpringet, aber freylich auch
der voreiligſte, der uns ohne den berichtigenden Sinn
des Gefuͤhls oft der Gefahr ausſetzet, etwas wie reine
Empfindung anzunehmen, was es nicht iſt.
Aber es waͤre doch allerdings ſehr viel, wenn die
Groͤße in einem Thurm, den ich in der Entfernung von
einigen hundert Schritten als einen großen Gegenſtand
von mir ſehe, nichts als ein Phantasma aus einer Em-
pfindung, die ich in der Naͤhe von ihm gehabt habe,
ſeyn ſollte. Jch ſehe ihn doch groͤßer. Und es iſt ge-
wiß falſch, daß ein Bild von dem Thurm aus der Naͤ-
he, an meiner gegenwaͤrtigen Jmpreſſion, die ich in der
Ferne von ihm habe, aſſociiret ſeyn ſollte. Denn wenn
ich lebhaft mich erinnere, oder es mir vorſtelle, wie ſo
ein Thurm in der Naͤhe von etlichen Schritten wohl aus
ſehen wuͤrde, ſo merke ich deutlich, daß dieſe Vorſtel-
lung nicht diejenige iſt, die ich gegenwaͤrtig in meiner
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/502>, abgerufen am 22.11.2024.
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