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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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V. Versuch. Ueber den Urspr. unserer
des Tons nur mit der übrigen gleichzeitigen Empfin-
dung des Jnstruments genauer vereiniget wäre. Weil
dieß aber selten ist, so finden wir kein näheres Subjekt
für den Ton als unser Jch, und setzen ihn also dahin,
und dieß noch um desto mehr, weil die Töne selten gleich-
gültige Gefühle sind, und Gemüthsbewegungen veran-
lassen, die wir nothwendig zu unserm Jch hinrechnen.

Den Gesichtsempfindungen von Farben und
Figuren, schreiben wir fast ohne Ausnahme eine Wirk-
lichkeit außer uns zu. Warum setzen wir diese Ein-
drücke nicht in die Augen, nicht auf die Netzhaut hin?
Darum nicht, weil diese sanften und zarten Eindrücke
leicht durch die Organe durchgehen, ohne Erschütterun-
gen hervorzubringen, wodurch die das Organ charakte-
risirende Gefühle erreget würden. Zuweilen geschicht doch
das letztere. Wenn das schwache Auge von dem Licht
bis zum Blendenden angegriffen wird, dann fühlen wir,
daß wir mit den Augen sehen. Wenn ein Funke aus
dem Auge springet, das gestoßen und erschüttert wor-
den ist, so empfinden wir die Veränderung auch wohl
in dem Auge.

Jn den gewöhnlichen Fällen sehen wir also die Sache
niemals in dem Auge. Der Cheßeldenische Blinde
setzte sie dicht vor den Augen hin. Ohne Zweifel des-
wegen, weil er es gewohnt war, die gefühlten Gegen-
stände dicht an das Organ hin zu setzen.

Warum wir aber denn die Gesichtsempfindungen
nicht in uns selbst, sondern außer uns hinsetzen, davon
ist der Grund aus dem vorhergehenden leicht einzusehen.
Sie konnten nicht in uns gesetzet werden, weil sie nicht
in der Empfindung unsers Jchs begriffen waren. Auch
sind sie nicht solche vorübergehende Eindrücke, wie die
Töne, sondern ganze Haufen vereinigter Empfindungen.
Der Anblick von einem Baum, von seiner Figur, Farbe,
Bewegung ist eine solche Menge von Empfindungen,

die

V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer
des Tons nur mit der uͤbrigen gleichzeitigen Empfin-
dung des Jnſtruments genauer vereiniget waͤre. Weil
dieß aber ſelten iſt, ſo finden wir kein naͤheres Subjekt
fuͤr den Ton als unſer Jch, und ſetzen ihn alſo dahin,
und dieß noch um deſto mehr, weil die Toͤne ſelten gleich-
guͤltige Gefuͤhle ſind, und Gemuͤthsbewegungen veran-
laſſen, die wir nothwendig zu unſerm Jch hinrechnen.

Den Geſichtsempfindungen von Farben und
Figuren, ſchreiben wir faſt ohne Ausnahme eine Wirk-
lichkeit außer uns zu. Warum ſetzen wir dieſe Ein-
druͤcke nicht in die Augen, nicht auf die Netzhaut hin?
Darum nicht, weil dieſe ſanften und zarten Eindruͤcke
leicht durch die Organe durchgehen, ohne Erſchuͤtterun-
gen hervorzubringen, wodurch die das Organ charakte-
riſirende Gefuͤhle erreget wuͤrden. Zuweilen geſchicht doch
das letztere. Wenn das ſchwache Auge von dem Licht
bis zum Blendenden angegriffen wird, dann fuͤhlen wir,
daß wir mit den Augen ſehen. Wenn ein Funke aus
dem Auge ſpringet, das geſtoßen und erſchuͤttert wor-
den iſt, ſo empfinden wir die Veraͤnderung auch wohl
in dem Auge.

Jn den gewoͤhnlichen Faͤllen ſehen wir alſo die Sache
niemals in dem Auge. Der Cheßeldeniſche Blinde
ſetzte ſie dicht vor den Augen hin. Ohne Zweifel des-
wegen, weil er es gewohnt war, die gefuͤhlten Gegen-
ſtaͤnde dicht an das Organ hin zu ſetzen.

Warum wir aber denn die Geſichtsempfindungen
nicht in uns ſelbſt, ſondern außer uns hinſetzen, davon
iſt der Grund aus dem vorhergehenden leicht einzuſehen.
Sie konnten nicht in uns geſetzet werden, weil ſie nicht
in der Empfindung unſers Jchs begriffen waren. Auch
ſind ſie nicht ſolche voruͤbergehende Eindruͤcke, wie die
Toͤne, ſondern ganze Haufen vereinigter Empfindungen.
Der Anblick von einem Baum, von ſeiner Figur, Farbe,
Bewegung iſt eine ſolche Menge von Empfindungen,

die
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[420/0480] V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer des Tons nur mit der uͤbrigen gleichzeitigen Empfin- dung des Jnſtruments genauer vereiniget waͤre. Weil dieß aber ſelten iſt, ſo finden wir kein naͤheres Subjekt fuͤr den Ton als unſer Jch, und ſetzen ihn alſo dahin, und dieß noch um deſto mehr, weil die Toͤne ſelten gleich- guͤltige Gefuͤhle ſind, und Gemuͤthsbewegungen veran- laſſen, die wir nothwendig zu unſerm Jch hinrechnen. Den Geſichtsempfindungen von Farben und Figuren, ſchreiben wir faſt ohne Ausnahme eine Wirk- lichkeit außer uns zu. Warum ſetzen wir dieſe Ein- druͤcke nicht in die Augen, nicht auf die Netzhaut hin? Darum nicht, weil dieſe ſanften und zarten Eindruͤcke leicht durch die Organe durchgehen, ohne Erſchuͤtterun- gen hervorzubringen, wodurch die das Organ charakte- riſirende Gefuͤhle erreget wuͤrden. Zuweilen geſchicht doch das letztere. Wenn das ſchwache Auge von dem Licht bis zum Blendenden angegriffen wird, dann fuͤhlen wir, daß wir mit den Augen ſehen. Wenn ein Funke aus dem Auge ſpringet, das geſtoßen und erſchuͤttert wor- den iſt, ſo empfinden wir die Veraͤnderung auch wohl in dem Auge. Jn den gewoͤhnlichen Faͤllen ſehen wir alſo die Sache niemals in dem Auge. Der Cheßeldeniſche Blinde ſetzte ſie dicht vor den Augen hin. Ohne Zweifel des- wegen, weil er es gewohnt war, die gefuͤhlten Gegen- ſtaͤnde dicht an das Organ hin zu ſetzen. Warum wir aber denn die Geſichtsempfindungen nicht in uns ſelbſt, ſondern außer uns hinſetzen, davon iſt der Grund aus dem vorhergehenden leicht einzuſehen. Sie konnten nicht in uns geſetzet werden, weil ſie nicht in der Empfindung unſers Jchs begriffen waren. Auch ſind ſie nicht ſolche voruͤbergehende Eindruͤcke, wie die Toͤne, ſondern ganze Haufen vereinigter Empfindungen. Der Anblick von einem Baum, von ſeiner Figur, Farbe, Bewegung iſt eine ſolche Menge von Empfindungen, die

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 420. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/480>, abgerufen am 22.11.2024.