eine Weile fortraisonniren, bis er sich aus seinem Jr- thum allmälig heraus ziehet. Die Reflexion soll zuerst alles, was die Seele empfindet, höret, siehet, fühlet, schmecket, riechet, als besondere Theile ihrer eigenen Existenz ansehen, und alle Modifikationen, die sie ge- wahrnimmt, für Modifikationen ihrer selbst erkennen. Da die ganze Scene von Empfindungen in ihr selbst vorgehet; so soll sie selbige auch in sich selbst, als in das ihnen zugehörige Subjekt hinsetzen, so, daß das erste natürliche Urtheil über die objektivische Existenz der Din- ge das idealistische sey, welches sie nachher durch ihre Raisonnements, verbessern und berichtigen müsse.
Aber wenn man überleget, wie viele Schritte des Verstandes schon vorhergehen müssen, ehe dieser falsche Gedanke hervorkommen kann, so muß man mit Grunde zweifeln, ob er der zuerst entstehende seyn werde? Wenn Adam als ein Mensch mit einer gereiften Ueberlegungs- kraft in das Paradieß trat, und nun, völlig unbekannt mit den Gegenständen und ihren Eindrücken auf sich, an- fieng, den sich auszeichnenden Gesang eines Vogels von seinen übrigen Empfindungen zu unterscheiden, warum sollte denn sein erstes Urtheil dieses seyn: Siehe, das ist etwas in dir? Vor einem solchen Urtheil mußten doch noch andere Aeußerungen der Denkkraft vorhergehen: es mußte Besinnung da seyn; Adam mußte aus der großen Menge der Empfindungen, die von allen Seiten her auf ihn zuströmten, einige unterscheiden und gewahrnehmen. Dann mußten noch alle Empfindungen unmittelbar in Ein Ding hin, als in Ein Subjekt gesetzet, alle auf sein Jch bezogen, und zu diesem hingerechnet werden. Wie viele Begriffe setzte so ein Urtheil nicht schon vor- aus? Jst es nicht vielmehr eben so natürlich, und eben so leicht zu erwarten, wenn die Reflexion bis dahin ge- kommen ist, wohin sie seyn muß, ehe sie etwas in sich selbst hinsetzen, und als ein Theil ihrer eigenen Exi-
stenz
V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer
eine Weile fortraiſonniren, bis er ſich aus ſeinem Jr- thum allmaͤlig heraus ziehet. Die Reflexion ſoll zuerſt alles, was die Seele empfindet, hoͤret, ſiehet, fuͤhlet, ſchmecket, riechet, als beſondere Theile ihrer eigenen Exiſtenz anſehen, und alle Modifikationen, die ſie ge- wahrnimmt, fuͤr Modifikationen ihrer ſelbſt erkennen. Da die ganze Scene von Empfindungen in ihr ſelbſt vorgehet; ſo ſoll ſie ſelbige auch in ſich ſelbſt, als in das ihnen zugehoͤrige Subjekt hinſetzen, ſo, daß das erſte natuͤrliche Urtheil uͤber die objektiviſche Exiſtenz der Din- ge das idealiſtiſche ſey, welches ſie nachher durch ihre Raiſonnements, verbeſſern und berichtigen muͤſſe.
Aber wenn man uͤberleget, wie viele Schritte des Verſtandes ſchon vorhergehen muͤſſen, ehe dieſer falſche Gedanke hervorkommen kann, ſo muß man mit Grunde zweifeln, ob er der zuerſt entſtehende ſeyn werde? Wenn Adam als ein Menſch mit einer gereiften Ueberlegungs- kraft in das Paradieß trat, und nun, voͤllig unbekannt mit den Gegenſtaͤnden und ihren Eindruͤcken auf ſich, an- fieng, den ſich auszeichnenden Geſang eines Vogels von ſeinen uͤbrigen Empfindungen zu unterſcheiden, warum ſollte denn ſein erſtes Urtheil dieſes ſeyn: Siehe, das iſt etwas in dir? Vor einem ſolchen Urtheil mußten doch noch andere Aeußerungen der Denkkraft vorhergehen: es mußte Beſinnung da ſeyn; Adam mußte aus der großen Menge der Empfindungen, die von allen Seiten her auf ihn zuſtroͤmten, einige unterſcheiden und gewahrnehmen. Dann mußten noch alle Empfindungen unmittelbar in Ein Ding hin, als in Ein Subjekt geſetzet, alle auf ſein Jch bezogen, und zu dieſem hingerechnet werden. Wie viele Begriffe ſetzte ſo ein Urtheil nicht ſchon vor- aus? Jſt es nicht vielmehr eben ſo natuͤrlich, und eben ſo leicht zu erwarten, wenn die Reflexion bis dahin ge- kommen iſt, wohin ſie ſeyn muß, ehe ſie etwas in ſich ſelbſt hinſetzen, und als ein Theil ihrer eigenen Exi-
ſtenz
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V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer
eine Weile fortraiſonniren, bis er ſich aus ſeinem Jr-
thum allmaͤlig heraus ziehet. Die Reflexion ſoll zuerſt
alles, was die Seele empfindet, hoͤret, ſiehet, fuͤhlet,
ſchmecket, riechet, als beſondere Theile ihrer eigenen
Exiſtenz anſehen, und alle Modifikationen, die ſie ge-
wahrnimmt, fuͤr Modifikationen ihrer ſelbſt erkennen.
Da die ganze Scene von Empfindungen in ihr ſelbſt
vorgehet; ſo ſoll ſie ſelbige auch in ſich ſelbſt, als in das
ihnen zugehoͤrige Subjekt hinſetzen, ſo, daß das erſte
natuͤrliche Urtheil uͤber die objektiviſche Exiſtenz der Din-
ge das idealiſtiſche ſey, welches ſie nachher durch ihre
Raiſonnements, verbeſſern und berichtigen muͤſſe.
Aber wenn man uͤberleget, wie viele Schritte des
Verſtandes ſchon vorhergehen muͤſſen, ehe dieſer falſche
Gedanke hervorkommen kann, ſo muß man mit Grunde
zweifeln, ob er der zuerſt entſtehende ſeyn werde? Wenn
Adam als ein Menſch mit einer gereiften Ueberlegungs-
kraft in das Paradieß trat, und nun, voͤllig unbekannt
mit den Gegenſtaͤnden und ihren Eindruͤcken auf ſich, an-
fieng, den ſich auszeichnenden Geſang eines Vogels von
ſeinen uͤbrigen Empfindungen zu unterſcheiden, warum
ſollte denn ſein erſtes Urtheil dieſes ſeyn: Siehe, das iſt
etwas in dir? Vor einem ſolchen Urtheil mußten doch
noch andere Aeußerungen der Denkkraft vorhergehen: es
mußte Beſinnung da ſeyn; Adam mußte aus der großen
Menge der Empfindungen, die von allen Seiten her auf
ihn zuſtroͤmten, einige unterſcheiden und gewahrnehmen.
Dann mußten noch alle Empfindungen unmittelbar in
Ein Ding hin, als in Ein Subjekt geſetzet, alle auf
ſein Jch bezogen, und zu dieſem hingerechnet werden.
Wie viele Begriffe ſetzte ſo ein Urtheil nicht ſchon vor-
aus? Jſt es nicht vielmehr eben ſo natuͤrlich, und eben
ſo leicht zu erwarten, wenn die Reflexion bis dahin ge-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 378. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/438>, abgerufen am 18.12.2024.
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