Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

V. Versuch. Ueber den Urspr. unserer
Magneten, daß er Eisen anziehe. Wo nicht weiter fort
zu kommen ist, so muß man freylich stille stehen; aber
jenes ist doch zu versuchen, und ist die Pflicht des Nach-
denkenden, der an der alten bequemen Methode, sich auf
qualitates occultas zu berufen, keinen Geschmack hat.
Es ist doch immer zu untersuchen, ob nicht die besonde-
ren
und einzelnen Kraftäußerungen in andere einfachere
zergliedert, und dann auf bekannte allgemeine Wir-
kungsarten zurückgebracht, mithin ihre Entstehung, zum
Theil wenigstens, erkläret werden können?

Z. B. Warum erkennet die Denkkraft ein Ding für
einerley mit sich selbst? Antwort: es ist ein natürlich
nothwendiges Gesetz ihrer Denkkraft. Weiter weiß ich
davon keinen Grund. Warum hält sie einen viereckten
Zirkel für ungedenkbar? Antwort: sie kann sich ihn
nicht vorstellen. Ferner, wenn zwey Eindrücke von äu-
ßern Gegenständen, die man empfindet, das sind, was
wir völlig gleiche und ähnliche Eindrücke nennen, und
wenn die Denkkraft von solchen Eindrücken modificiret
ist, so kann sie ihre Urtheilskraft nicht anders äußern,
als auf diejenige Art, die wir mit den Worten bezeich-
nen, "sie halte solche für einerley." Es giebt allgemei-
ne instinktartige Urtheilsgesetze, oder die wir doch dafür
annehmen müssen, weil sie für uns Grundgesetze sind,
wonach die Denkkraft Dinge für einerley, und für ver-
schieden gedenken muß; und dergleichen kann es mehrere
geben, die wir nicht im Stande sind, auf Einen allge-
meinen Grundsatz zurückzuführen. Aber nun ist die Fra-
ge; wie weit die Urtheile über die Objektivität der Vor-
stellungen, wenn ich so sagen soll, oder über die innere
und äußere Wirklichkeit der vorgestellten Gegenstände,
Wirkungen der Denkkraft sind, die aus andern allge-
meinen nothwendigen Naturgesetzen dieser Kraft begrif-
fen werden, oder in wie ferne sie ihre eigene Grundge-
setze erfodern; denen sie gemäß sind?

II. Ob

V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer
Magneten, daß er Eiſen anziehe. Wo nicht weiter fort
zu kommen iſt, ſo muß man freylich ſtille ſtehen; aber
jenes iſt doch zu verſuchen, und iſt die Pflicht des Nach-
denkenden, der an der alten bequemen Methode, ſich auf
qualitates occultas zu berufen, keinen Geſchmack hat.
Es iſt doch immer zu unterſuchen, ob nicht die beſonde-
ren
und einzelnen Kraftaͤußerungen in andere einfachere
zergliedert, und dann auf bekannte allgemeine Wir-
kungsarten zuruͤckgebracht, mithin ihre Entſtehung, zum
Theil wenigſtens, erklaͤret werden koͤnnen?

Z. B. Warum erkennet die Denkkraft ein Ding fuͤr
einerley mit ſich ſelbſt? Antwort: es iſt ein natuͤrlich
nothwendiges Geſetz ihrer Denkkraft. Weiter weiß ich
davon keinen Grund. Warum haͤlt ſie einen viereckten
Zirkel fuͤr ungedenkbar? Antwort: ſie kann ſich ihn
nicht vorſtellen. Ferner, wenn zwey Eindruͤcke von aͤu-
ßern Gegenſtaͤnden, die man empfindet, das ſind, was
wir voͤllig gleiche und aͤhnliche Eindruͤcke nennen, und
wenn die Denkkraft von ſolchen Eindruͤcken modificiret
iſt, ſo kann ſie ihre Urtheilskraft nicht anders aͤußern,
als auf diejenige Art, die wir mit den Worten bezeich-
nen, „ſie halte ſolche fuͤr einerley.“ Es giebt allgemei-
ne inſtinktartige Urtheilsgeſetze, oder die wir doch dafuͤr
annehmen muͤſſen, weil ſie fuͤr uns Grundgeſetze ſind,
wonach die Denkkraft Dinge fuͤr einerley, und fuͤr ver-
ſchieden gedenken muß; und dergleichen kann es mehrere
geben, die wir nicht im Stande ſind, auf Einen allge-
meinen Grundſatz zuruͤckzufuͤhren. Aber nun iſt die Fra-
ge; wie weit die Urtheile uͤber die Objektivitaͤt der Vor-
ſtellungen, wenn ich ſo ſagen ſoll, oder uͤber die innere
und aͤußere Wirklichkeit der vorgeſtellten Gegenſtaͤnde,
Wirkungen der Denkkraft ſind, die aus andern allge-
meinen nothwendigen Naturgeſetzen dieſer Kraft begrif-
fen werden, oder in wie ferne ſie ihre eigene Grundge-
ſetze erfodern; denen ſie gemaͤß ſind?

II. Ob
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0436" n="376"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">V.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber den Ur&#x017F;pr. un&#x017F;erer</hi></fw><lb/>
Magneten, daß er Ei&#x017F;en anziehe. Wo nicht weiter fort<lb/>
zu kommen i&#x017F;t, &#x017F;o muß man freylich &#x017F;tille &#x017F;tehen; aber<lb/>
jenes i&#x017F;t doch zu ver&#x017F;uchen, und i&#x017F;t die Pflicht des Nach-<lb/>
denkenden, der an der alten bequemen Methode, &#x017F;ich auf<lb/><hi rendition="#aq">qualitates occultas</hi> zu berufen, keinen Ge&#x017F;chmack hat.<lb/>
Es i&#x017F;t doch immer zu unter&#x017F;uchen, ob nicht die <hi rendition="#fr">be&#x017F;onde-<lb/>
ren</hi> und einzelnen Krafta&#x0364;ußerungen in andere <hi rendition="#fr">einfachere</hi><lb/>
zergliedert, und dann auf <hi rendition="#fr">bekannte allgemeine</hi> Wir-<lb/>
kungsarten zuru&#x0364;ckgebracht, mithin ihre Ent&#x017F;tehung, zum<lb/>
Theil wenig&#x017F;tens, erkla&#x0364;ret werden ko&#x0364;nnen?</p><lb/>
          <p>Z. B. Warum erkennet die Denkkraft ein Ding fu&#x0364;r<lb/><hi rendition="#fr">einerley</hi> mit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t? Antwort: es i&#x017F;t ein natu&#x0364;rlich<lb/>
nothwendiges Ge&#x017F;etz ihrer Denkkraft. Weiter weiß ich<lb/>
davon keinen Grund. Warum ha&#x0364;lt &#x017F;ie einen viereckten<lb/>
Zirkel fu&#x0364;r ungedenkbar? Antwort: &#x017F;ie kann &#x017F;ich ihn<lb/>
nicht vor&#x017F;tellen. Ferner, wenn zwey Eindru&#x0364;cke von a&#x0364;u-<lb/>
ßern Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden, die man empfindet, das &#x017F;ind, was<lb/>
wir vo&#x0364;llig gleiche und a&#x0364;hnliche Eindru&#x0364;cke nennen, und<lb/>
wenn die Denkkraft von &#x017F;olchen Eindru&#x0364;cken modificiret<lb/>
i&#x017F;t, &#x017F;o kann &#x017F;ie ihre Urtheilskraft nicht anders a&#x0364;ußern,<lb/>
als auf diejenige Art, die wir mit den Worten bezeich-<lb/>
nen, &#x201E;&#x017F;ie halte &#x017F;olche fu&#x0364;r einerley.&#x201C; Es giebt allgemei-<lb/>
ne in&#x017F;tinktartige Urtheilsge&#x017F;etze, oder die wir doch dafu&#x0364;r<lb/>
annehmen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, weil &#x017F;ie fu&#x0364;r uns Grundge&#x017F;etze &#x017F;ind,<lb/>
wonach die Denkkraft Dinge fu&#x0364;r einerley, und fu&#x0364;r ver-<lb/>
&#x017F;chieden gedenken muß; und dergleichen kann es mehrere<lb/>
geben, die wir nicht im Stande &#x017F;ind, auf Einen allge-<lb/>
meinen Grund&#x017F;atz zuru&#x0364;ckzufu&#x0364;hren. Aber nun i&#x017F;t die Fra-<lb/>
ge; wie weit die Urtheile u&#x0364;ber die <hi rendition="#fr">Objektivita&#x0364;t</hi> der Vor-<lb/>
&#x017F;tellungen, wenn ich &#x017F;o &#x017F;agen &#x017F;oll, oder u&#x0364;ber die innere<lb/>
und a&#x0364;ußere Wirklichkeit der vorge&#x017F;tellten Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde,<lb/>
Wirkungen der Denkkraft &#x017F;ind, die aus andern allge-<lb/>
meinen nothwendigen Naturge&#x017F;etzen die&#x017F;er Kraft begrif-<lb/>
fen werden, oder in wie ferne &#x017F;ie ihre eigene Grundge-<lb/>
&#x017F;etze erfodern; denen &#x017F;ie gema&#x0364;ß &#x017F;ind?</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#aq">II.</hi> Ob</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[376/0436] V. Verſuch. Ueber den Urſpr. unſerer Magneten, daß er Eiſen anziehe. Wo nicht weiter fort zu kommen iſt, ſo muß man freylich ſtille ſtehen; aber jenes iſt doch zu verſuchen, und iſt die Pflicht des Nach- denkenden, der an der alten bequemen Methode, ſich auf qualitates occultas zu berufen, keinen Geſchmack hat. Es iſt doch immer zu unterſuchen, ob nicht die beſonde- ren und einzelnen Kraftaͤußerungen in andere einfachere zergliedert, und dann auf bekannte allgemeine Wir- kungsarten zuruͤckgebracht, mithin ihre Entſtehung, zum Theil wenigſtens, erklaͤret werden koͤnnen? Z. B. Warum erkennet die Denkkraft ein Ding fuͤr einerley mit ſich ſelbſt? Antwort: es iſt ein natuͤrlich nothwendiges Geſetz ihrer Denkkraft. Weiter weiß ich davon keinen Grund. Warum haͤlt ſie einen viereckten Zirkel fuͤr ungedenkbar? Antwort: ſie kann ſich ihn nicht vorſtellen. Ferner, wenn zwey Eindruͤcke von aͤu- ßern Gegenſtaͤnden, die man empfindet, das ſind, was wir voͤllig gleiche und aͤhnliche Eindruͤcke nennen, und wenn die Denkkraft von ſolchen Eindruͤcken modificiret iſt, ſo kann ſie ihre Urtheilskraft nicht anders aͤußern, als auf diejenige Art, die wir mit den Worten bezeich- nen, „ſie halte ſolche fuͤr einerley.“ Es giebt allgemei- ne inſtinktartige Urtheilsgeſetze, oder die wir doch dafuͤr annehmen muͤſſen, weil ſie fuͤr uns Grundgeſetze ſind, wonach die Denkkraft Dinge fuͤr einerley, und fuͤr ver- ſchieden gedenken muß; und dergleichen kann es mehrere geben, die wir nicht im Stande ſind, auf Einen allge- meinen Grundſatz zuruͤckzufuͤhren. Aber nun iſt die Fra- ge; wie weit die Urtheile uͤber die Objektivitaͤt der Vor- ſtellungen, wenn ich ſo ſagen ſoll, oder uͤber die innere und aͤußere Wirklichkeit der vorgeſtellten Gegenſtaͤnde, Wirkungen der Denkkraft ſind, die aus andern allge- meinen nothwendigen Naturgeſetzen dieſer Kraft begrif- fen werden, oder in wie ferne ſie ihre eigene Grundge- ſetze erfodern; denen ſie gemaͤß ſind? II. Ob

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/436
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/436>, abgerufen am 21.11.2024.