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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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IV. Versuch. Ueber die Denkkraft
einander erfolgen, ohne zu wissen, und gewahrzuneh-
men, worinn diese Veränderungen für sich bestehen.
Wir fühlen, daß sie von einander abhangen; wir füh-
len, daß mehrere zugleich vorhanden sind; die wir in ih-
rer Folge und als abhängig auf einander beziehen und
zusammen nehmen, ohne sie einzeln gehörig abzusondern,
besonders zu stellen, sie gewahrzunehmen, von einander
zu unterscheiden, und jedwede für sich zu kennen. Da
wir solche Erfahrungen haben, so ist dieß für sich allein
ein Beweis, daß wir die Beziehungen zwoer Sachen
ohne die Sachen selbst gewahrnehmen können.

Jn solchen Fällen, wo wir fühlen, daß die Sachen
einerley, oder daß sie verschieden sind, scheinet es,
als wenn doch etwas von einer Gewahrnehmung der Sa-
chen selbst vorhanden sey, weil wir in dem ersten Fall
sie als mehrere Sachen erkennen, und in dem letztern
Fall wissen, daß die Eine nicht die andere sey. Aber
dieß beides können wir aus Umständen wissen, die mit
den dunkeln Vorstellungen in uns verbunden sind, ohne
es aus den Vorstellungen her zu nehmen. Denn so
weiß ich auch in der dunkelsten Nacht, daß der Gegen-
stand an der rechten Seite nicht der sey, der zur Linken
liegt. Da sind zwar die Gefühle von diesen Objekten,
und ihre Vorstellungen, in so weit auseinander gesetzt,
als wir sie in ihrer Beziehung gewahrnehmen. Das
Gefühl des Hauses zur Rechten ist abgesondert von dem
Gefühl der Sache zur Linken. Aber es sind nicht diese
Gefühle und diese Vorstellungen selbst, die ohne Rück-
sicht auf ihre Verbindung in uns, ihrer eignen innern
Verschiedenheit wegen, als unterschiedene hätten erkannt
werden können. Ein klares Gewahrnehmen, da jede
Vorstellung für sich mit den übrigen gegenwärtigen Ver-
änderungen kontrastiret, und dann als eine besondere
Vorstellung wegen ihrer innern Beschaffenheit gedacht
werden könnte, worinn das eigentliche Gewahrnehmen

einer

IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft
einander erfolgen, ohne zu wiſſen, und gewahrzuneh-
men, worinn dieſe Veraͤnderungen fuͤr ſich beſtehen.
Wir fuͤhlen, daß ſie von einander abhangen; wir fuͤh-
len, daß mehrere zugleich vorhanden ſind; die wir in ih-
rer Folge und als abhaͤngig auf einander beziehen und
zuſammen nehmen, ohne ſie einzeln gehoͤrig abzuſondern,
beſonders zu ſtellen, ſie gewahrzunehmen, von einander
zu unterſcheiden, und jedwede fuͤr ſich zu kennen. Da
wir ſolche Erfahrungen haben, ſo iſt dieß fuͤr ſich allein
ein Beweis, daß wir die Beziehungen zwoer Sachen
ohne die Sachen ſelbſt gewahrnehmen koͤnnen.

Jn ſolchen Faͤllen, wo wir fuͤhlen, daß die Sachen
einerley, oder daß ſie verſchieden ſind, ſcheinet es,
als wenn doch etwas von einer Gewahrnehmung der Sa-
chen ſelbſt vorhanden ſey, weil wir in dem erſten Fall
ſie als mehrere Sachen erkennen, und in dem letztern
Fall wiſſen, daß die Eine nicht die andere ſey. Aber
dieß beides koͤnnen wir aus Umſtaͤnden wiſſen, die mit
den dunkeln Vorſtellungen in uns verbunden ſind, ohne
es aus den Vorſtellungen her zu nehmen. Denn ſo
weiß ich auch in der dunkelſten Nacht, daß der Gegen-
ſtand an der rechten Seite nicht der ſey, der zur Linken
liegt. Da ſind zwar die Gefuͤhle von dieſen Objekten,
und ihre Vorſtellungen, in ſo weit auseinander geſetzt,
als wir ſie in ihrer Beziehung gewahrnehmen. Das
Gefuͤhl des Hauſes zur Rechten iſt abgeſondert von dem
Gefuͤhl der Sache zur Linken. Aber es ſind nicht dieſe
Gefuͤhle und dieſe Vorſtellungen ſelbſt, die ohne Ruͤck-
ſicht auf ihre Verbindung in uns, ihrer eignen innern
Verſchiedenheit wegen, als unterſchiedene haͤtten erkannt
werden koͤnnen. Ein klares Gewahrnehmen, da jede
Vorſtellung fuͤr ſich mit den uͤbrigen gegenwaͤrtigen Ver-
aͤnderungen kontraſtiret, und dann als eine beſondere
Vorſtellung wegen ihrer innern Beſchaffenheit gedacht
werden koͤnnte, worinn das eigentliche Gewahrnehmen

einer
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[358/0418] IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft einander erfolgen, ohne zu wiſſen, und gewahrzuneh- men, worinn dieſe Veraͤnderungen fuͤr ſich beſtehen. Wir fuͤhlen, daß ſie von einander abhangen; wir fuͤh- len, daß mehrere zugleich vorhanden ſind; die wir in ih- rer Folge und als abhaͤngig auf einander beziehen und zuſammen nehmen, ohne ſie einzeln gehoͤrig abzuſondern, beſonders zu ſtellen, ſie gewahrzunehmen, von einander zu unterſcheiden, und jedwede fuͤr ſich zu kennen. Da wir ſolche Erfahrungen haben, ſo iſt dieß fuͤr ſich allein ein Beweis, daß wir die Beziehungen zwoer Sachen ohne die Sachen ſelbſt gewahrnehmen koͤnnen. Jn ſolchen Faͤllen, wo wir fuͤhlen, daß die Sachen einerley, oder daß ſie verſchieden ſind, ſcheinet es, als wenn doch etwas von einer Gewahrnehmung der Sa- chen ſelbſt vorhanden ſey, weil wir in dem erſten Fall ſie als mehrere Sachen erkennen, und in dem letztern Fall wiſſen, daß die Eine nicht die andere ſey. Aber dieß beides koͤnnen wir aus Umſtaͤnden wiſſen, die mit den dunkeln Vorſtellungen in uns verbunden ſind, ohne es aus den Vorſtellungen her zu nehmen. Denn ſo weiß ich auch in der dunkelſten Nacht, daß der Gegen- ſtand an der rechten Seite nicht der ſey, der zur Linken liegt. Da ſind zwar die Gefuͤhle von dieſen Objekten, und ihre Vorſtellungen, in ſo weit auseinander geſetzt, als wir ſie in ihrer Beziehung gewahrnehmen. Das Gefuͤhl des Hauſes zur Rechten iſt abgeſondert von dem Gefuͤhl der Sache zur Linken. Aber es ſind nicht dieſe Gefuͤhle und dieſe Vorſtellungen ſelbſt, die ohne Ruͤck- ſicht auf ihre Verbindung in uns, ihrer eignen innern Verſchiedenheit wegen, als unterſchiedene haͤtten erkannt werden koͤnnen. Ein klares Gewahrnehmen, da jede Vorſtellung fuͤr ſich mit den uͤbrigen gegenwaͤrtigen Ver- aͤnderungen kontraſtiret, und dann als eine beſondere Vorſtellung wegen ihrer innern Beſchaffenheit gedacht werden koͤnnte, worinn das eigentliche Gewahrnehmen einer

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/418>, abgerufen am 22.12.2024.