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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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IV. Versuch. Ueber die Denkkraft
dig nemlich, bis so weit, daß wir den Aktus des Ge-
wahrnehmens selbst beobachten können; ja es lassen sich
Beyspiele geben, worinn der Gedanke von der Bezie-
hung der Sache vorhanden ist, ohne daß das Gewahr-
nehmen der auf einander bezogenen Sachen für sich ein-
zeln genommen, beobachtbar sey.

Was das erste betrift; kann nicht die Vorstellung
von der Sonne und von ihrem Licht, die Vorstellung
von dem Feuer und von der davon verursachten Erwär-
mung, beide in Einer ganzen Vorstellung, zwar als
verschiedene, aber doch nicht, als so weit aus einan-
der gesetzte Theile, wie zum wirklichen Unterscheiden nö-
thig ist, enthalten seyn, und im Dunkeln liegen, und
dennoch die Denkthätigkeit, wodurch sie als abhängig
und verursacht von einander gedacht werden, hervorge-
hen? Reid hat viele Beyspiele angebracht, worinn
mit dem Gewahrnehmen der Dinge so unmittelbar der
Gedanke, oder wie Reid sagt, das Urtheil, daß sie in
ursachlicher Verknüpfung stehen, verbunden ist, daß der
Verhältnißgedanke zugleich mit dem Gewahrnehmen der
Sachen entstanden, gewachsen, und zur Reife gekom-
men zu seyn scheinet.

Jnnerlich nach der Analogie zu urtheilen, ist es
wahrscheinlich, daß da, wo die Verbindung der Vor-
stellungen in der Phantasie so wohl die übrigen Denk-
vermögen, als das Gewahrnehmungs- und Unterschei-
dungsvermögen zur Thätigkeit reizet, auch jene nicht so
lange gänzlich zurück bleiben werden, bis die Wirkung
der letztern völlig fertig ist; vorausgesetzt, daß jene nicht
blos in einem höheren Grad von dieser bestehen. "Kei-
"ne bemerkbare Aktion der Seele entsteht in einem Nu.
"Jede hat ihre Folge und Länge, und entstehet nach und
"nach. Sind es also verbundene, zugleich hervorge-
"lockte, und doch verschiedene Aktus, so mag es wohl
"seyn, daß auch der Anfang der Entwickelung bey einer

"von

IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft
dig nemlich, bis ſo weit, daß wir den Aktus des Ge-
wahrnehmens ſelbſt beobachten koͤnnen; ja es laſſen ſich
Beyſpiele geben, worinn der Gedanke von der Bezie-
hung der Sache vorhanden iſt, ohne daß das Gewahr-
nehmen der auf einander bezogenen Sachen fuͤr ſich ein-
zeln genommen, beobachtbar ſey.

Was das erſte betrift; kann nicht die Vorſtellung
von der Sonne und von ihrem Licht, die Vorſtellung
von dem Feuer und von der davon verurſachten Erwaͤr-
mung, beide in Einer ganzen Vorſtellung, zwar als
verſchiedene, aber doch nicht, als ſo weit aus einan-
der geſetzte Theile, wie zum wirklichen Unterſcheiden noͤ-
thig iſt, enthalten ſeyn, und im Dunkeln liegen, und
dennoch die Denkthaͤtigkeit, wodurch ſie als abhaͤngig
und verurſacht von einander gedacht werden, hervorge-
hen? Reid hat viele Beyſpiele angebracht, worinn
mit dem Gewahrnehmen der Dinge ſo unmittelbar der
Gedanke, oder wie Reid ſagt, das Urtheil, daß ſie in
urſachlicher Verknuͤpfung ſtehen, verbunden iſt, daß der
Verhaͤltnißgedanke zugleich mit dem Gewahrnehmen der
Sachen entſtanden, gewachſen, und zur Reife gekom-
men zu ſeyn ſcheinet.

Jnnerlich nach der Analogie zu urtheilen, iſt es
wahrſcheinlich, daß da, wo die Verbindung der Vor-
ſtellungen in der Phantaſie ſo wohl die uͤbrigen Denk-
vermoͤgen, als das Gewahrnehmungs- und Unterſchei-
dungsvermoͤgen zur Thaͤtigkeit reizet, auch jene nicht ſo
lange gaͤnzlich zuruͤck bleiben werden, bis die Wirkung
der letztern voͤllig fertig iſt; vorausgeſetzt, daß jene nicht
blos in einem hoͤheren Grad von dieſer beſtehen. „Kei-
„ne bemerkbare Aktion der Seele entſteht in einem Nu.
„Jede hat ihre Folge und Laͤnge, und entſtehet nach und
„nach. Sind es alſo verbundene, zugleich hervorge-
„lockte, und doch verſchiedene Aktus, ſo mag es wohl
„ſeyn, daß auch der Anfang der Entwickelung bey einer

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[306/0366] IV. Verſuch. Ueber die Denkkraft dig nemlich, bis ſo weit, daß wir den Aktus des Ge- wahrnehmens ſelbſt beobachten koͤnnen; ja es laſſen ſich Beyſpiele geben, worinn der Gedanke von der Bezie- hung der Sache vorhanden iſt, ohne daß das Gewahr- nehmen der auf einander bezogenen Sachen fuͤr ſich ein- zeln genommen, beobachtbar ſey. Was das erſte betrift; kann nicht die Vorſtellung von der Sonne und von ihrem Licht, die Vorſtellung von dem Feuer und von der davon verurſachten Erwaͤr- mung, beide in Einer ganzen Vorſtellung, zwar als verſchiedene, aber doch nicht, als ſo weit aus einan- der geſetzte Theile, wie zum wirklichen Unterſcheiden noͤ- thig iſt, enthalten ſeyn, und im Dunkeln liegen, und dennoch die Denkthaͤtigkeit, wodurch ſie als abhaͤngig und verurſacht von einander gedacht werden, hervorge- hen? Reid hat viele Beyſpiele angebracht, worinn mit dem Gewahrnehmen der Dinge ſo unmittelbar der Gedanke, oder wie Reid ſagt, das Urtheil, daß ſie in urſachlicher Verknuͤpfung ſtehen, verbunden iſt, daß der Verhaͤltnißgedanke zugleich mit dem Gewahrnehmen der Sachen entſtanden, gewachſen, und zur Reife gekom- men zu ſeyn ſcheinet. Jnnerlich nach der Analogie zu urtheilen, iſt es wahrſcheinlich, daß da, wo die Verbindung der Vor- ſtellungen in der Phantaſie ſo wohl die uͤbrigen Denk- vermoͤgen, als das Gewahrnehmungs- und Unterſchei- dungsvermoͤgen zur Thaͤtigkeit reizet, auch jene nicht ſo lange gaͤnzlich zuruͤck bleiben werden, bis die Wirkung der letztern voͤllig fertig iſt; vorausgeſetzt, daß jene nicht blos in einem hoͤheren Grad von dieſer beſtehen. „Kei- „ne bemerkbare Aktion der Seele entſteht in einem Nu. „Jede hat ihre Folge und Laͤnge, und entſtehet nach und „nach. Sind es alſo verbundene, zugleich hervorge- „lockte, und doch verſchiedene Aktus, ſo mag es wohl „ſeyn, daß auch der Anfang der Entwickelung bey einer „von

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/366>, abgerufen am 21.11.2024.