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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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III. Versuch. Ueber das Gewahrnehmen
des unter die stärksten Anstrengungen der Seele gehören;
so wird alles, was bey dem Ueberlegen und bey dem
Nachdenken einer Sache als eine Selbstwirksamkeit der
Seele vorkommt; die gegenwärtige Darstellung der
Jdeen, ihre Gegeneinanderhaltung, das Herumsetzen
derselben, das Vergleichen, Verbinden, Absondern u.
s. f. dem Willen zugeschrieben, als dem Vermögen,
sich selbstthätig zur Wirksamkeit zu bestimmen. Wenn
man so abtheilen will, so kann freylich für den Verstand
nichts mehr übrig bleiben, als die Empfänglichkeit, oder
die passiven Vermögen der Seele, Veränderungen in
sich aufzunehmen. Und auch nicht alle hieher gehörige
sollen dem Verstande zugeschrieben werden, sondern nur
allein das Gewahrnehmungsvermögen, das man für ei-
ne bloße Receptivität angesehen hat. Die künstliche Ab-
theilung der Seelenkräfte mag jeder einrichten, wie er es
für gut befindet, wenn nur nichts reelles bey ihnen über-
sehen wird. Aber warum unterscheidet man nicht Selbst-
thätigkeiten, die auf das Erkennen gerichtet sind, von
denen, welche auf Handlungen hinausgehen, durch wel-
che in uns selbst und außer uns etwas verursachet wird,
das nicht in Vorstellungen und Gedanken bestehet?

Jndessen kann ich es leicht zugeben; daß der Ver-
stand nichts mehr befassen soll, als das Vermögen gewahr-
zunehmen. Jst denn dieses Gewahrnehmen blos eine
leidentliche Veränderung? Das gemeine Gefühl der
Deutschen muß zwischen dem Gewahrnehmen und
dem Gewahrwerden einigen Unterschied gefunden ha-
ben, weil es zwey verschiedene Wörter in die Sprache
gebracht hat, davon das andere ein Thun ausdrücket,
das andere ein Mittelwort ist, um diese Verschiedenheit
anzugeben. Wie weit ist solche denn gegründet; oder ist
der gemeine Verstand, wie er es selten ist, hier einmal
ein spitzfindiger Wortkrämer gewesen?

Es

III. Verſuch. Ueber das Gewahrnehmen
des unter die ſtaͤrkſten Anſtrengungen der Seele gehoͤren;
ſo wird alles, was bey dem Ueberlegen und bey dem
Nachdenken einer Sache als eine Selbſtwirkſamkeit der
Seele vorkommt; die gegenwaͤrtige Darſtellung der
Jdeen, ihre Gegeneinanderhaltung, das Herumſetzen
derſelben, das Vergleichen, Verbinden, Abſondern u.
ſ. f. dem Willen zugeſchrieben, als dem Vermoͤgen,
ſich ſelbſtthaͤtig zur Wirkſamkeit zu beſtimmen. Wenn
man ſo abtheilen will, ſo kann freylich fuͤr den Verſtand
nichts mehr uͤbrig bleiben, als die Empfaͤnglichkeit, oder
die paſſiven Vermoͤgen der Seele, Veraͤnderungen in
ſich aufzunehmen. Und auch nicht alle hieher gehoͤrige
ſollen dem Verſtande zugeſchrieben werden, ſondern nur
allein das Gewahrnehmungsvermoͤgen, das man fuͤr ei-
ne bloße Receptivitaͤt angeſehen hat. Die kuͤnſtliche Ab-
theilung der Seelenkraͤfte mag jeder einrichten, wie er es
fuͤr gut befindet, wenn nur nichts reelles bey ihnen uͤber-
ſehen wird. Aber warum unterſcheidet man nicht Selbſt-
thaͤtigkeiten, die auf das Erkennen gerichtet ſind, von
denen, welche auf Handlungen hinausgehen, durch wel-
che in uns ſelbſt und außer uns etwas verurſachet wird,
das nicht in Vorſtellungen und Gedanken beſtehet?

Jndeſſen kann ich es leicht zugeben; daß der Ver-
ſtand nichts mehr befaſſen ſoll, als das Vermoͤgen gewahr-
zunehmen. Jſt denn dieſes Gewahrnehmen blos eine
leidentliche Veraͤnderung? Das gemeine Gefuͤhl der
Deutſchen muß zwiſchen dem Gewahrnehmen und
dem Gewahrwerden einigen Unterſchied gefunden ha-
ben, weil es zwey verſchiedene Woͤrter in die Sprache
gebracht hat, davon das andere ein Thun ausdruͤcket,
das andere ein Mittelwort iſt, um dieſe Verſchiedenheit
anzugeben. Wie weit iſt ſolche denn gegruͤndet; oder iſt
der gemeine Verſtand, wie er es ſelten iſt, hier einmal
ein ſpitzfindiger Wortkraͤmer geweſen?

Es
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[286/0346] III. Verſuch. Ueber das Gewahrnehmen des unter die ſtaͤrkſten Anſtrengungen der Seele gehoͤren; ſo wird alles, was bey dem Ueberlegen und bey dem Nachdenken einer Sache als eine Selbſtwirkſamkeit der Seele vorkommt; die gegenwaͤrtige Darſtellung der Jdeen, ihre Gegeneinanderhaltung, das Herumſetzen derſelben, das Vergleichen, Verbinden, Abſondern u. ſ. f. dem Willen zugeſchrieben, als dem Vermoͤgen, ſich ſelbſtthaͤtig zur Wirkſamkeit zu beſtimmen. Wenn man ſo abtheilen will, ſo kann freylich fuͤr den Verſtand nichts mehr uͤbrig bleiben, als die Empfaͤnglichkeit, oder die paſſiven Vermoͤgen der Seele, Veraͤnderungen in ſich aufzunehmen. Und auch nicht alle hieher gehoͤrige ſollen dem Verſtande zugeſchrieben werden, ſondern nur allein das Gewahrnehmungsvermoͤgen, das man fuͤr ei- ne bloße Receptivitaͤt angeſehen hat. Die kuͤnſtliche Ab- theilung der Seelenkraͤfte mag jeder einrichten, wie er es fuͤr gut befindet, wenn nur nichts reelles bey ihnen uͤber- ſehen wird. Aber warum unterſcheidet man nicht Selbſt- thaͤtigkeiten, die auf das Erkennen gerichtet ſind, von denen, welche auf Handlungen hinausgehen, durch wel- che in uns ſelbſt und außer uns etwas verurſachet wird, das nicht in Vorſtellungen und Gedanken beſtehet? Jndeſſen kann ich es leicht zugeben; daß der Ver- ſtand nichts mehr befaſſen ſoll, als das Vermoͤgen gewahr- zunehmen. Jſt denn dieſes Gewahrnehmen blos eine leidentliche Veraͤnderung? Das gemeine Gefuͤhl der Deutſchen muß zwiſchen dem Gewahrnehmen und dem Gewahrwerden einigen Unterſchied gefunden ha- ben, weil es zwey verſchiedene Woͤrter in die Sprache gebracht hat, davon das andere ein Thun ausdruͤcket, das andere ein Mittelwort iſt, um dieſe Verſchiedenheit anzugeben. Wie weit iſt ſolche denn gegruͤndet; oder iſt der gemeine Verſtand, wie er es ſelten iſt, hier einmal ein ſpitzfindiger Wortkraͤmer geweſen? Es

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/346>, abgerufen am 24.11.2024.