Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite
und Bewußtseyn.
IV.
Wie das Gewahrnehmen entstehe.

1) Es setzet eine sich ausnehmende Empfin-
dung oder Vorstellung von der gewahrge-
nommenen Sache voraus.

2) Es erfordert eine Zurückbeugung der em-
pfindenden und vorstellenden Kraft auf die
gewahrgenommene Sache.

1.

Der Aktus des Gewahrnehmens kann nur beobachtet
werden, wenn eine Sache schon wahrgenommen
worden ist. Denn in dem Augenblick, wenn man ge-
wahrnimmt, kann man nicht auch gewahrnehmen, was
dabey vorgehet. So verhält es sich bey den meisten un-
serer innern Empfindungen, wie oben schon bemerket
worden ist; und dieß ist nur allzuoft die Gelegenheit, daß
die Phantasie ihre Dichtungen unter den Beobachtun-
gen einmischet. Aber dennoch machet dieser Umstand
eine richtige Beobachtung nicht ganz unmöglich.

Richte ich das innere Geistesauge auf den Aktus des
Gewahrnehmens, so gut ich kann, so zeiget sich zuerst
dabey dieser merkwürdige Umstand. "Die Empfin-
"dung oder die Vorstellung, durch welche man einen Ge-
"genstand gewahrnimmt, ist vorzüglich lebhaft in uns
"gegenwärtig, und abgesondert von andern." Die
Veranlassung, warum ich eben dieß Ding und nicht ein
anders jetzo gewahrwerde, mag seyn, welche sie wolle;
sie mag in mir oder vorzüglich in dem Objekt selbst lie-
gen; es mögen meine Augen von ohngefehr auf einen
Menschen fallen, den ich unter einem großen Haufen vor
andern bemerke; oder es mag daher kommen, weil die-
ser Mensch eben allein von den übrigen abgesondert steht;

oder
S 5
und Bewußtſeyn.
IV.
Wie das Gewahrnehmen entſtehe.

1) Es ſetzet eine ſich ausnehmende Empfin-
dung oder Vorſtellung von der gewahrge-
nommenen Sache voraus.

2) Es erfordert eine Zuruͤckbeugung der em-
pfindenden und vorſtellenden Kraft auf die
gewahrgenommene Sache.

1.

Der Aktus des Gewahrnehmens kann nur beobachtet
werden, wenn eine Sache ſchon wahrgenommen
worden iſt. Denn in dem Augenblick, wenn man ge-
wahrnimmt, kann man nicht auch gewahrnehmen, was
dabey vorgehet. So verhaͤlt es ſich bey den meiſten un-
ſerer innern Empfindungen, wie oben ſchon bemerket
worden iſt; und dieß iſt nur allzuoft die Gelegenheit, daß
die Phantaſie ihre Dichtungen unter den Beobachtun-
gen einmiſchet. Aber dennoch machet dieſer Umſtand
eine richtige Beobachtung nicht ganz unmoͤglich.

Richte ich das innere Geiſtesauge auf den Aktus des
Gewahrnehmens, ſo gut ich kann, ſo zeiget ſich zuerſt
dabey dieſer merkwuͤrdige Umſtand. „Die Empfin-
„dung oder die Vorſtellung, durch welche man einen Ge-
„genſtand gewahrnimmt, iſt vorzuͤglich lebhaft in uns
„gegenwaͤrtig, und abgeſondert von andern.“ Die
Veranlaſſung, warum ich eben dieß Ding und nicht ein
anders jetzo gewahrwerde, mag ſeyn, welche ſie wolle;
ſie mag in mir oder vorzuͤglich in dem Objekt ſelbſt lie-
gen; es moͤgen meine Augen von ohngefehr auf einen
Menſchen fallen, den ich unter einem großen Haufen vor
andern bemerke; oder es mag daher kommen, weil die-
ſer Menſch eben allein von den uͤbrigen abgeſondert ſteht;

oder
S 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0341" n="281"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">und Bewußt&#x017F;eyn.</hi> </fw><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#aq">IV.</hi><lb/>
Wie das Gewahrnehmen ent&#x017F;tehe.</head><lb/>
          <argument>
            <p>
              <list>
                <item>1) <hi rendition="#fr">Es &#x017F;etzet eine &#x017F;ich ausnehmende Empfin-<lb/>
dung oder Vor&#x017F;tellung von der gewahrge-<lb/>
nommenen Sache voraus.</hi></item><lb/>
                <item>2) <hi rendition="#fr">Es erfordert eine Zuru&#x0364;ckbeugung der em-<lb/>
pfindenden und vor&#x017F;tellenden Kraft auf die<lb/>
gewahrgenommene Sache.</hi></item>
              </list>
            </p>
          </argument><lb/>
          <div n="3">
            <head>1.</head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi>er Aktus des Gewahrnehmens kann nur beobachtet<lb/>
werden, wenn eine Sache &#x017F;chon wahrgenommen<lb/>
worden i&#x017F;t. Denn in dem Augenblick, wenn man ge-<lb/>
wahrnimmt, kann man nicht auch gewahrnehmen, was<lb/>
dabey vorgehet. So verha&#x0364;lt es &#x017F;ich bey den mei&#x017F;ten un-<lb/>
&#x017F;erer innern Empfindungen, wie oben &#x017F;chon bemerket<lb/>
worden i&#x017F;t; und dieß i&#x017F;t nur allzuoft die Gelegenheit, daß<lb/>
die Phanta&#x017F;ie ihre Dichtungen unter den Beobachtun-<lb/>
gen einmi&#x017F;chet. Aber dennoch machet die&#x017F;er Um&#x017F;tand<lb/>
eine richtige Beobachtung nicht ganz unmo&#x0364;glich.</p><lb/>
            <p>Richte ich das innere Gei&#x017F;tesauge auf den Aktus des<lb/>
Gewahrnehmens, &#x017F;o gut ich kann, &#x017F;o zeiget &#x017F;ich zuer&#x017F;t<lb/>
dabey die&#x017F;er merkwu&#x0364;rdige Um&#x017F;tand. &#x201E;Die Empfin-<lb/>
&#x201E;dung oder die Vor&#x017F;tellung, durch welche man einen Ge-<lb/>
&#x201E;gen&#x017F;tand gewahrnimmt, i&#x017F;t vorzu&#x0364;glich lebhaft in uns<lb/>
&#x201E;gegenwa&#x0364;rtig, und abge&#x017F;ondert von andern.&#x201C; Die<lb/>
Veranla&#x017F;&#x017F;ung, warum ich eben dieß Ding und nicht ein<lb/>
anders jetzo gewahrwerde, mag &#x017F;eyn, welche &#x017F;ie wolle;<lb/>
&#x017F;ie mag in mir oder vorzu&#x0364;glich in dem Objekt &#x017F;elb&#x017F;t lie-<lb/>
gen; es mo&#x0364;gen meine Augen von ohngefehr auf einen<lb/>
Men&#x017F;chen fallen, den ich unter einem großen Haufen vor<lb/>
andern bemerke; oder es mag daher kommen, weil die-<lb/>
&#x017F;er Men&#x017F;ch eben allein von den u&#x0364;brigen abge&#x017F;ondert &#x017F;teht;<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">S 5</fw><fw place="bottom" type="catch">oder</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[281/0341] und Bewußtſeyn. IV. Wie das Gewahrnehmen entſtehe. 1) Es ſetzet eine ſich ausnehmende Empfin- dung oder Vorſtellung von der gewahrge- nommenen Sache voraus. 2) Es erfordert eine Zuruͤckbeugung der em- pfindenden und vorſtellenden Kraft auf die gewahrgenommene Sache. 1. Der Aktus des Gewahrnehmens kann nur beobachtet werden, wenn eine Sache ſchon wahrgenommen worden iſt. Denn in dem Augenblick, wenn man ge- wahrnimmt, kann man nicht auch gewahrnehmen, was dabey vorgehet. So verhaͤlt es ſich bey den meiſten un- ſerer innern Empfindungen, wie oben ſchon bemerket worden iſt; und dieß iſt nur allzuoft die Gelegenheit, daß die Phantaſie ihre Dichtungen unter den Beobachtun- gen einmiſchet. Aber dennoch machet dieſer Umſtand eine richtige Beobachtung nicht ganz unmoͤglich. Richte ich das innere Geiſtesauge auf den Aktus des Gewahrnehmens, ſo gut ich kann, ſo zeiget ſich zuerſt dabey dieſer merkwuͤrdige Umſtand. „Die Empfin- „dung oder die Vorſtellung, durch welche man einen Ge- „genſtand gewahrnimmt, iſt vorzuͤglich lebhaft in uns „gegenwaͤrtig, und abgeſondert von andern.“ Die Veranlaſſung, warum ich eben dieß Ding und nicht ein anders jetzo gewahrwerde, mag ſeyn, welche ſie wolle; ſie mag in mir oder vorzuͤglich in dem Objekt ſelbſt lie- gen; es moͤgen meine Augen von ohngefehr auf einen Menſchen fallen, den ich unter einem großen Haufen vor andern bemerke; oder es mag daher kommen, weil die- ſer Menſch eben allein von den uͤbrigen abgeſondert ſteht; oder S 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/341
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/341>, abgerufen am 24.11.2024.