Vorstellung etwas gewahrnehmbares vorhanden sey, was doch nicht gewahrgenommen wird, und ob eine gan- ze Vorstellung einer Sache so seyn könne?
Endlich, so sind auch unsere Auseinandersetzungen der Jdeen im Kopf, und ihre Verdeutlichung keine Be- weise, daß etwas in ihnen ehe schon völlig apperceptibel gewesen sey, ehe es wirklich appercipiret worden ist. Un- sere selbstthätige Vorstellungskraft kann die in eine ver- wirrte Vorstellung zusammenlaufende einzelne Bilder auf manche Weise auseinander setzen, und das vermischte auf- lösen; es folget aber nicht, daß sie solches bis dahin thun könne, daß irgend ein Theil, ein Zug, ein Merk- mal die abgesonderte und hervorstechende Lage empfange, in der es ist, wenn es unterschieden wird, ohne daß alsdenn der Aktus des Gewahrnehmens zugleich auch er- folge? Laß die Vorstellung, noch ehe sie in diesen Zu- stand versetzet wird, immer eine Perception oder eine Vorstellung heißen; sie ist doch eine solche Vorstellung noch nicht, die mit der bildlichen Klarheit versehen wä- re, welche sie alsdenn an sich hat, wenn sie als eine Vor- stellung einer Sache von uns gebrauchet wird. Dieje- nigen, welche geläugnet haben, daß es bloße Vorstellun- gen ohne Bewußtseyn gebe, haben auch ohne Zweifel den Namen der Vorstellung einer sich auf einen andern Gegenstand beziehenden Modifikation der Seele nicht ehe geben wollen, als bis solche so weit abgesondert in uns vorhanden sey, als sie alsdenn ist, wenn wir sie von andern unterscheiden und gewahrnehmen.
Es geschieht oft, daß ich auf die Frage, welch ein Kleid hatte die Person an, die ich in der Gesellschaft nicht lange vorher gesehen habe, nicht sogleich antworten kann, aber nach einigem Besinnen sage ich: es dünke mich, dieses oder jenes, und zuweilen setze ich hinzu, es sey gewiß. Aber sobald ich es für gewiß ausgebe, so erin- nere ich mich, in der Empfindung schon die Farbe und
Gestalt
III. Verſuch. Ueber das Gewahrnehmen
Vorſtellung etwas gewahrnehmbares vorhanden ſey, was doch nicht gewahrgenommen wird, und ob eine gan- ze Vorſtellung einer Sache ſo ſeyn koͤnne?
Endlich, ſo ſind auch unſere Auseinanderſetzungen der Jdeen im Kopf, und ihre Verdeutlichung keine Be- weiſe, daß etwas in ihnen ehe ſchon voͤllig apperceptibel geweſen ſey, ehe es wirklich appercipiret worden iſt. Un- ſere ſelbſtthaͤtige Vorſtellungskraft kann die in eine ver- wirrte Vorſtellung zuſammenlaufende einzelne Bilder auf manche Weiſe auseinander ſetzen, und das vermiſchte auf- loͤſen; es folget aber nicht, daß ſie ſolches bis dahin thun koͤnne, daß irgend ein Theil, ein Zug, ein Merk- mal die abgeſonderte und hervorſtechende Lage empfange, in der es iſt, wenn es unterſchieden wird, ohne daß alsdenn der Aktus des Gewahrnehmens zugleich auch er- folge? Laß die Vorſtellung, noch ehe ſie in dieſen Zu- ſtand verſetzet wird, immer eine Perception oder eine Vorſtellung heißen; ſie iſt doch eine ſolche Vorſtellung noch nicht, die mit der bildlichen Klarheit verſehen waͤ- re, welche ſie alsdenn an ſich hat, wenn ſie als eine Vor- ſtellung einer Sache von uns gebrauchet wird. Dieje- nigen, welche gelaͤugnet haben, daß es bloße Vorſtellun- gen ohne Bewußtſeyn gebe, haben auch ohne Zweifel den Namen der Vorſtellung einer ſich auf einen andern Gegenſtand beziehenden Modifikation der Seele nicht ehe geben wollen, als bis ſolche ſo weit abgeſondert in uns vorhanden ſey, als ſie alsdenn iſt, wenn wir ſie von andern unterſcheiden und gewahrnehmen.
Es geſchieht oft, daß ich auf die Frage, welch ein Kleid hatte die Perſon an, die ich in der Geſellſchaft nicht lange vorher geſehen habe, nicht ſogleich antworten kann, aber nach einigem Beſinnen ſage ich: es duͤnke mich, dieſes oder jenes, und zuweilen ſetze ich hinzu, es ſey gewiß. Aber ſobald ich es fuͤr gewiß ausgebe, ſo erin- nere ich mich, in der Empfindung ſchon die Farbe und
Geſtalt
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III. Verſuch. Ueber das Gewahrnehmen
Vorſtellung etwas gewahrnehmbares vorhanden ſey,
was doch nicht gewahrgenommen wird, und ob eine gan-
ze Vorſtellung einer Sache ſo ſeyn koͤnne?
Endlich, ſo ſind auch unſere Auseinanderſetzungen
der Jdeen im Kopf, und ihre Verdeutlichung keine Be-
weiſe, daß etwas in ihnen ehe ſchon voͤllig apperceptibel
geweſen ſey, ehe es wirklich appercipiret worden iſt. Un-
ſere ſelbſtthaͤtige Vorſtellungskraft kann die in eine ver-
wirrte Vorſtellung zuſammenlaufende einzelne Bilder auf
manche Weiſe auseinander ſetzen, und das vermiſchte auf-
loͤſen; es folget aber nicht, daß ſie ſolches bis dahin
thun koͤnne, daß irgend ein Theil, ein Zug, ein Merk-
mal die abgeſonderte und hervorſtechende Lage empfange,
in der es iſt, wenn es unterſchieden wird, ohne daß
alsdenn der Aktus des Gewahrnehmens zugleich auch er-
folge? Laß die Vorſtellung, noch ehe ſie in dieſen Zu-
ſtand verſetzet wird, immer eine Perception oder eine
Vorſtellung heißen; ſie iſt doch eine ſolche Vorſtellung
noch nicht, die mit der bildlichen Klarheit verſehen waͤ-
re, welche ſie alsdenn an ſich hat, wenn ſie als eine Vor-
ſtellung einer Sache von uns gebrauchet wird. Dieje-
nigen, welche gelaͤugnet haben, daß es bloße Vorſtellun-
gen ohne Bewußtſeyn gebe, haben auch ohne Zweifel
den Namen der Vorſtellung einer ſich auf einen andern
Gegenſtand beziehenden Modifikation der Seele nicht
ehe geben wollen, als bis ſolche ſo weit abgeſondert in
uns vorhanden ſey, als ſie alsdenn iſt, wenn wir ſie von
andern unterſcheiden und gewahrnehmen.
Es geſchieht oft, daß ich auf die Frage, welch ein
Kleid hatte die Perſon an, die ich in der Geſellſchaft
nicht lange vorher geſehen habe, nicht ſogleich antworten
kann, aber nach einigem Beſinnen ſage ich: es duͤnke
mich, dieſes oder jenes, und zuweilen ſetze ich hinzu, es
ſey gewiß. Aber ſobald ich es fuͤr gewiß ausgebe, ſo erin-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/330>, abgerufen am 22.12.2024.
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