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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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III. Versuch. Ueber das Gewahrnehmen

Dennoch ist die Hauptsache in dem Streit über die
Existenz der bloßen Vorstellungen hiedurch noch nicht
entschieden. Alles abgesondert, was Wortgezänke ist,
und auf Wortverwirrung und Mißverstand beruhet, so
findet sich hiebey eine dunkle Stelle, auf die, soviel mir
bekannt ist, noch das nöthige Licht nicht gebracht worden
ist, und auch aus Beobachtungen allein wohl nicht ge-
bracht werden kann. Giebt es in uns Vorstellungen,
die als Bilder und Zeichen betrachtet, hinreichend aus-
gedruckt, und von andern stark genug in der Phantasie
abgesondert sind, so daß sie selbst und durch sie ihre Ob-
jekte von andern unterschieden werden können? Haben
sie alle bildliche Klarheit, alles Licht, was ihnen nöthig
ist, um als Jdeen gebrauchet zu werden, sobald das Au-
ge des Geistes auf sie hinsiehet, ohne doch daß wir dar-
um wissen, daß wir sie wirklich sehen und gewahrneh-
men? Sind sie und können sie schon völlig zubereitet
und apperceptibel seyn, ohne zugleich wirklich appercipirt
zu werden? Oder müssen sie vielleicht jene materielle
Klarheit nur erst durch derselbigen Aktus empfangen,
wodurch sie wirklich gewahrgenommen, und wirklich als
Bilder und Zeichen gebrauchet werden? durch den Ak-
tus, wodurch sie mit Bewußtseyn beseelet, und zu Jdeen
werden? Die hier aufgeworfene Frage kommt unter
andern Gestalten und Ausdrücken in mehrern psychologi-
schen Aufgaben vor. Der Unterschied zwischen der bild-
lichen
und ideellen Klarheit ist oben in dem Versuch
über die Vorstellungen (N. XII.) angegeben worden.
Hier will ich noch etwas hinzufetzen, um die Dunkelheit
in der Sache, die wohl nicht vertrieben werden kann,
bestimmt anzugeben, und zu zeigen, wie stark sie sey,
und wo sie liege.

Wir haben öfters einen Gegenstand so nahe und so
gerade vor Augen, daß wir eine und die andere Beschaf-
fenheit an ihm hätten gewahrnehmen können, ohne daß

solches,
III. Verſuch. Ueber das Gewahrnehmen

Dennoch iſt die Hauptſache in dem Streit uͤber die
Exiſtenz der bloßen Vorſtellungen hiedurch noch nicht
entſchieden. Alles abgeſondert, was Wortgezaͤnke iſt,
und auf Wortverwirrung und Mißverſtand beruhet, ſo
findet ſich hiebey eine dunkle Stelle, auf die, ſoviel mir
bekannt iſt, noch das noͤthige Licht nicht gebracht worden
iſt, und auch aus Beobachtungen allein wohl nicht ge-
bracht werden kann. Giebt es in uns Vorſtellungen,
die als Bilder und Zeichen betrachtet, hinreichend aus-
gedruckt, und von andern ſtark genug in der Phantaſie
abgeſondert ſind, ſo daß ſie ſelbſt und durch ſie ihre Ob-
jekte von andern unterſchieden werden koͤnnen? Haben
ſie alle bildliche Klarheit, alles Licht, was ihnen noͤthig
iſt, um als Jdeen gebrauchet zu werden, ſobald das Au-
ge des Geiſtes auf ſie hinſiehet, ohne doch daß wir dar-
um wiſſen, daß wir ſie wirklich ſehen und gewahrneh-
men? Sind ſie und koͤnnen ſie ſchon voͤllig zubereitet
und apperceptibel ſeyn, ohne zugleich wirklich appercipirt
zu werden? Oder muͤſſen ſie vielleicht jene materielle
Klarheit nur erſt durch derſelbigen Aktus empfangen,
wodurch ſie wirklich gewahrgenommen, und wirklich als
Bilder und Zeichen gebrauchet werden? durch den Ak-
tus, wodurch ſie mit Bewußtſeyn beſeelet, und zu Jdeen
werden? Die hier aufgeworfene Frage kommt unter
andern Geſtalten und Ausdruͤcken in mehrern pſychologi-
ſchen Aufgaben vor. Der Unterſchied zwiſchen der bild-
lichen
und ideellen Klarheit iſt oben in dem Verſuch
uͤber die Vorſtellungen (N. XII.) angegeben worden.
Hier will ich noch etwas hinzufetzen, um die Dunkelheit
in der Sache, die wohl nicht vertrieben werden kann,
beſtimmt anzugeben, und zu zeigen, wie ſtark ſie ſey,
und wo ſie liege.

Wir haben oͤfters einen Gegenſtand ſo nahe und ſo
gerade vor Augen, daß wir eine und die andere Beſchaf-
fenheit an ihm haͤtten gewahrnehmen koͤnnen, ohne daß

ſolches,
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[266/0326] III. Verſuch. Ueber das Gewahrnehmen Dennoch iſt die Hauptſache in dem Streit uͤber die Exiſtenz der bloßen Vorſtellungen hiedurch noch nicht entſchieden. Alles abgeſondert, was Wortgezaͤnke iſt, und auf Wortverwirrung und Mißverſtand beruhet, ſo findet ſich hiebey eine dunkle Stelle, auf die, ſoviel mir bekannt iſt, noch das noͤthige Licht nicht gebracht worden iſt, und auch aus Beobachtungen allein wohl nicht ge- bracht werden kann. Giebt es in uns Vorſtellungen, die als Bilder und Zeichen betrachtet, hinreichend aus- gedruckt, und von andern ſtark genug in der Phantaſie abgeſondert ſind, ſo daß ſie ſelbſt und durch ſie ihre Ob- jekte von andern unterſchieden werden koͤnnen? Haben ſie alle bildliche Klarheit, alles Licht, was ihnen noͤthig iſt, um als Jdeen gebrauchet zu werden, ſobald das Au- ge des Geiſtes auf ſie hinſiehet, ohne doch daß wir dar- um wiſſen, daß wir ſie wirklich ſehen und gewahrneh- men? Sind ſie und koͤnnen ſie ſchon voͤllig zubereitet und apperceptibel ſeyn, ohne zugleich wirklich appercipirt zu werden? Oder muͤſſen ſie vielleicht jene materielle Klarheit nur erſt durch derſelbigen Aktus empfangen, wodurch ſie wirklich gewahrgenommen, und wirklich als Bilder und Zeichen gebrauchet werden? durch den Ak- tus, wodurch ſie mit Bewußtſeyn beſeelet, und zu Jdeen werden? Die hier aufgeworfene Frage kommt unter andern Geſtalten und Ausdruͤcken in mehrern pſychologi- ſchen Aufgaben vor. Der Unterſchied zwiſchen der bild- lichen und ideellen Klarheit iſt oben in dem Verſuch uͤber die Vorſtellungen (N. XII.) angegeben worden. Hier will ich noch etwas hinzufetzen, um die Dunkelheit in der Sache, die wohl nicht vertrieben werden kann, beſtimmt anzugeben, und zu zeigen, wie ſtark ſie ſey, und wo ſie liege. Wir haben oͤfters einen Gegenſtand ſo nahe und ſo gerade vor Augen, daß wir eine und die andere Beſchaf- fenheit an ihm haͤtten gewahrnehmen koͤnnen, ohne daß ſolches,

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/326>, abgerufen am 25.11.2024.