nicht. Es müßte also entweder durch ein Raisonnement aus Beobachtungen etwas gewisses, oder durch Analo- gie etwas Wahrscheinliches entdecket werden können; oder es kann nur das Eine oder das andere als eine Hy- pothese angenommen und gemuthmaßet werden.
Hr. Search hat es sonsten durch einen Schluß aus der Analogie wahrscheinlich zu machen gesucht, daß die Seele niemals etwas unmittelbar in sich selbst hervor- bringe, sondern durch jede Thätigkeit zunächst nur ihr inneres Organ modificiren müsse. Und hiemit verbindet er nun den Gedanken, daß es diese Organsveränderung sey, welche sie fühle, wenn sie sich selbst und ihre eigene Aktionen empfindet. Wenn ich den ersten Satz zugebe, so deucht es mich doch nicht, daß es natürlicher sey, sich diese dem Gehirn eingedruckte Bewegung als das un- mittelbare Objekt des Fühlens anzusehen, als es ist, sich vorzustellen, daß vorher von dieser Gehirnsveränderung auch in der Kraft der Seele selbst eine Modifikation ent- stehe, indem das modificirte Gehirn auf sie zurückwirket, und ihr selbst eine immaterielle Bestimmung ertheilet; und daß es alsdenn diese letztere, in ihr selbst und in ih- rer Kraft verursachte Beschaffenheit sey, die sie unmit- telbar fühlet und empfindet. Jndessen werden diese bei- den Vorstellungsarten nun so weit nicht mehr von ein- ander abgehen, wenn nur in beiden, so wohl die im- materielle Seelenveränderung als die ihr zugehörige ma- terielle Gehirnsveränderung als wirklich vorhanden an- genommen wird, und man keine von ihnen übersiehet. Jn den Erklärungen der neuern wird gemeiniglich zu wenig Rücksicht auf die Seelenbeschaffenheit genommen, so wie in den Erklärungen der vorigen Philosophen weniger auf die Gehirnsveränderung geachtet wurde. Diese sagten, die Seele fühle sich selbst und ihre eigene Modifikatio- nes in sich; jene sagen, sie fühle das Gehirn und dessen Veränderungen außer sich.
Bey
II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
nicht. Es muͤßte alſo entweder durch ein Raiſonnement aus Beobachtungen etwas gewiſſes, oder durch Analo- gie etwas Wahrſcheinliches entdecket werden koͤnnen; oder es kann nur das Eine oder das andere als eine Hy- potheſe angenommen und gemuthmaßet werden.
Hr. Search hat es ſonſten durch einen Schluß aus der Analogie wahrſcheinlich zu machen geſucht, daß die Seele niemals etwas unmittelbar in ſich ſelbſt hervor- bringe, ſondern durch jede Thaͤtigkeit zunaͤchſt nur ihr inneres Organ modificiren muͤſſe. Und hiemit verbindet er nun den Gedanken, daß es dieſe Organsveraͤnderung ſey, welche ſie fuͤhle, wenn ſie ſich ſelbſt und ihre eigene Aktionen empfindet. Wenn ich den erſten Satz zugebe, ſo deucht es mich doch nicht, daß es natuͤrlicher ſey, ſich dieſe dem Gehirn eingedruckte Bewegung als das un- mittelbare Objekt des Fuͤhlens anzuſehen, als es iſt, ſich vorzuſtellen, daß vorher von dieſer Gehirnsveraͤnderung auch in der Kraft der Seele ſelbſt eine Modifikation ent- ſtehe, indem das modificirte Gehirn auf ſie zuruͤckwirket, und ihr ſelbſt eine immaterielle Beſtimmung ertheilet; und daß es alsdenn dieſe letztere, in ihr ſelbſt und in ih- rer Kraft verurſachte Beſchaffenheit ſey, die ſie unmit- telbar fuͤhlet und empfindet. Jndeſſen werden dieſe bei- den Vorſtellungsarten nun ſo weit nicht mehr von ein- ander abgehen, wenn nur in beiden, ſo wohl die im- materielle Seelenveraͤnderung als die ihr zugehoͤrige ma- terielle Gehirnsveraͤnderung als wirklich vorhanden an- genommen wird, und man keine von ihnen uͤberſiehet. Jn den Erklaͤrungen der neuern wird gemeiniglich zu wenig Ruͤckſicht auf die Seelenbeſchaffenheit genommen, ſo wie in den Erklaͤrungen der vorigen Philoſophen weniger auf die Gehirnsveraͤnderung geachtet wurde. Dieſe ſagten, die Seele fuͤhle ſich ſelbſt und ihre eigene Modifikatio- nes in ſich; jene ſagen, ſie fuͤhle das Gehirn und deſſen Veraͤnderungen außer ſich.
Bey
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II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
nicht. Es muͤßte alſo entweder durch ein Raiſonnement
aus Beobachtungen etwas gewiſſes, oder durch Analo-
gie etwas Wahrſcheinliches entdecket werden koͤnnen;
oder es kann nur das Eine oder das andere als eine Hy-
potheſe angenommen und gemuthmaßet werden.
Hr. Search hat es ſonſten durch einen Schluß aus
der Analogie wahrſcheinlich zu machen geſucht, daß die
Seele niemals etwas unmittelbar in ſich ſelbſt hervor-
bringe, ſondern durch jede Thaͤtigkeit zunaͤchſt nur ihr
inneres Organ modificiren muͤſſe. Und hiemit verbindet
er nun den Gedanken, daß es dieſe Organsveraͤnderung
ſey, welche ſie fuͤhle, wenn ſie ſich ſelbſt und ihre eigene
Aktionen empfindet. Wenn ich den erſten Satz zugebe,
ſo deucht es mich doch nicht, daß es natuͤrlicher ſey, ſich
dieſe dem Gehirn eingedruckte Bewegung als das un-
mittelbare Objekt des Fuͤhlens anzuſehen, als es iſt, ſich
vorzuſtellen, daß vorher von dieſer Gehirnsveraͤnderung
auch in der Kraft der Seele ſelbſt eine Modifikation ent-
ſtehe, indem das modificirte Gehirn auf ſie zuruͤckwirket,
und ihr ſelbſt eine immaterielle Beſtimmung ertheilet;
und daß es alsdenn dieſe letztere, in ihr ſelbſt und in ih-
rer Kraft verurſachte Beſchaffenheit ſey, die ſie unmit-
telbar fuͤhlet und empfindet. Jndeſſen werden dieſe bei-
den Vorſtellungsarten nun ſo weit nicht mehr von ein-
ander abgehen, wenn nur in beiden, ſo wohl die im-
materielle Seelenveraͤnderung als die ihr zugehoͤrige ma-
terielle Gehirnsveraͤnderung als wirklich vorhanden an-
genommen wird, und man keine von ihnen uͤberſiehet.
Jn den Erklaͤrungen der neuern wird gemeiniglich zu wenig
Ruͤckſicht auf die Seelenbeſchaffenheit genommen, ſo wie
in den Erklaͤrungen der vorigen Philoſophen weniger auf
die Gehirnsveraͤnderung geachtet wurde. Dieſe ſagten,
die Seele fuͤhle ſich ſelbſt und ihre eigene Modifikatio-
nes in ſich; jene ſagen, ſie fuͤhle das Gehirn und deſſen
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/318>, abgerufen am 22.12.2024.
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