mehr vorher, da die Sehnsucht es färbte, scheinet das sinnliche Vergnügen am reinsten zu seyn.
Zweytens. Die Empfindungen entstehen nur nach und nach in der Seele; und auch so die Lust oder Unlust, welche sie begleitet. Aber in der Wiedervorstellung sind ganze Reihen von afficirenden Vorstellungen auf Einer Stelle in Einem Augenblick bey einander. Jene einzel- ne Eindrücke der Empfindungen sind zertheilt; die Wir- kung von der, die vorangehet, ist schon verloschen, wenn eine andere nachfolget. So fließen die vergnügtesten Tage in der Gesellschaft angenehmer und geistreicher Freunde dahin, ohne die Seele anzuschwellen. Aber die Erinnerung dieser Tage wirket wie die durch ein Brenn- glas vereinigte Sonnenstrahlen, die einzeln bey ihrem Durchgang durch das Glas geschwächet werden, dennoch aber da zünden, wo sie zusammengebracht sind.
Beide Ursachen zusammen machen die Empfindnisse aus Vorstellungen zu einem abgezogenen aber starken Geist, den die Phantasie aus Empfindungen abscheidet. Jst es zu verwundern, daß sie in dieser Gestalt Wir- kungen hervorbringen, die man vorhero bey ihnen nicht gewahrnahm?
Hiezu kommt drittens, daß auch die Vorstellun- gen, als Modifikationes der Seele betrachtet, durch ih- re Ordnung, Folge und Uebereinstimmung unter sich, und durch ihre Beziehungen auf die vorstellende Kraft, eine Art von Empfindnissen in der Seele hervorbringen, die sie einzeln und absonderlich genommen nicht bewir- ken können. Etwas ähnliches finden wir auch bey den Empfindungen. Der Reiz der Musik; das Vergnü- gen aus der Symmetrie u. s. w. ist ein Beweis, daß ih- re afficirende Kraft mehr von der Stellung und Folge der einzelnen Eindrücke abhange, als von der absoluten Stärke und Schwäche der Kraft, die in ihnen, einzeln genommen, vorhanden ist. Wenn nun eine Reihe von
Vorstel-
II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
mehr vorher, da die Sehnſucht es faͤrbte, ſcheinet das ſinnliche Vergnuͤgen am reinſten zu ſeyn.
Zweytens. Die Empfindungen entſtehen nur nach und nach in der Seele; und auch ſo die Luſt oder Unluſt, welche ſie begleitet. Aber in der Wiedervorſtellung ſind ganze Reihen von afficirenden Vorſtellungen auf Einer Stelle in Einem Augenblick bey einander. Jene einzel- ne Eindruͤcke der Empfindungen ſind zertheilt; die Wir- kung von der, die vorangehet, iſt ſchon verloſchen, wenn eine andere nachfolget. So fließen die vergnuͤgteſten Tage in der Geſellſchaft angenehmer und geiſtreicher Freunde dahin, ohne die Seele anzuſchwellen. Aber die Erinnerung dieſer Tage wirket wie die durch ein Brenn- glas vereinigte Sonnenſtrahlen, die einzeln bey ihrem Durchgang durch das Glas geſchwaͤchet werden, dennoch aber da zuͤnden, wo ſie zuſammengebracht ſind.
Beide Urſachen zuſammen machen die Empfindniſſe aus Vorſtellungen zu einem abgezogenen aber ſtarken Geiſt, den die Phantaſie aus Empfindungen abſcheidet. Jſt es zu verwundern, daß ſie in dieſer Geſtalt Wir- kungen hervorbringen, die man vorhero bey ihnen nicht gewahrnahm?
Hiezu kommt drittens, daß auch die Vorſtellun- gen, als Modifikationes der Seele betrachtet, durch ih- re Ordnung, Folge und Uebereinſtimmung unter ſich, und durch ihre Beziehungen auf die vorſtellende Kraft, eine Art von Empfindniſſen in der Seele hervorbringen, die ſie einzeln und abſonderlich genommen nicht bewir- ken koͤnnen. Etwas aͤhnliches finden wir auch bey den Empfindungen. Der Reiz der Muſik; das Vergnuͤ- gen aus der Symmetrie u. ſ. w. iſt ein Beweis, daß ih- re afficirende Kraft mehr von der Stellung und Folge der einzelnen Eindruͤcke abhange, als von der abſoluten Staͤrke und Schwaͤche der Kraft, die in ihnen, einzeln genommen, vorhanden iſt. Wenn nun eine Reihe von
Vorſtel-
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II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
mehr vorher, da die Sehnſucht es faͤrbte, ſcheinet das
ſinnliche Vergnuͤgen am reinſten zu ſeyn.
Zweytens. Die Empfindungen entſtehen nur nach
und nach in der Seele; und auch ſo die Luſt oder Unluſt,
welche ſie begleitet. Aber in der Wiedervorſtellung ſind
ganze Reihen von afficirenden Vorſtellungen auf Einer
Stelle in Einem Augenblick bey einander. Jene einzel-
ne Eindruͤcke der Empfindungen ſind zertheilt; die Wir-
kung von der, die vorangehet, iſt ſchon verloſchen, wenn
eine andere nachfolget. So fließen die vergnuͤgteſten
Tage in der Geſellſchaft angenehmer und geiſtreicher
Freunde dahin, ohne die Seele anzuſchwellen. Aber die
Erinnerung dieſer Tage wirket wie die durch ein Brenn-
glas vereinigte Sonnenſtrahlen, die einzeln bey ihrem
Durchgang durch das Glas geſchwaͤchet werden, dennoch
aber da zuͤnden, wo ſie zuſammengebracht ſind.
Beide Urſachen zuſammen machen die Empfindniſſe
aus Vorſtellungen zu einem abgezogenen aber ſtarken
Geiſt, den die Phantaſie aus Empfindungen abſcheidet.
Jſt es zu verwundern, daß ſie in dieſer Geſtalt Wir-
kungen hervorbringen, die man vorhero bey ihnen nicht
gewahrnahm?
Hiezu kommt drittens, daß auch die Vorſtellun-
gen, als Modifikationes der Seele betrachtet, durch ih-
re Ordnung, Folge und Uebereinſtimmung unter ſich,
und durch ihre Beziehungen auf die vorſtellende Kraft,
eine Art von Empfindniſſen in der Seele hervorbringen,
die ſie einzeln und abſonderlich genommen nicht bewir-
ken koͤnnen. Etwas aͤhnliches finden wir auch bey den
Empfindungen. Der Reiz der Muſik; das Vergnuͤ-
gen aus der Symmetrie u. ſ. w. iſt ein Beweis, daß ih-
re afficirende Kraft mehr von der Stellung und Folge
der einzelnen Eindruͤcke abhange, als von der abſoluten
Staͤrke und Schwaͤche der Kraft, die in ihnen, einzeln
genommen, vorhanden iſt. Wenn nun eine Reihe von
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/310>, abgerufen am 22.12.2024.
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