Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.II. Versuch. Ueber das Gefühl, als die gegenwärtige Dinge, die wir empfinden. DieEmpfindnisse aus Vorstellungen machen ohne Zweifel den größten Theil von unserm Wohl und Weh aus. Nicht die Krankheiten, wie Hr. v. Büffon etwas un- bestimmt, aber richtig und erhaben saget, nicht die Schmerzen, nicht der Tod sind es, die den Menschen un- glücklich machen, es sind es seine Einbildungen, seine Furcht, seine Begierden. Der große Mann nannte nur einige, aber die vornehmsten Theile von unserm gan- zen Empfindungsübel, die nemlich, welche aus den äu- ßern Empfindungen entspringen. Es ist noch der zwote geistige Theil zurück, der in den innern Empfindungen unser selbst lieget. Aber wenn man auch beide zusam- men nimmt, so ist es doch eine Wahrheit, wenn die Phan- tasie dem Menschen benommen würde, oder wenn ihr Beytrag abgehalten werden könnte, so würden die Em- pfindungen allein immer zwar noch die Gründe seyn, aus welchen Lust und Unlust hervorquillet und von ihnen als von so viel Mittelpunkten aus über die Seele sich verbrei- tet, aber sie allein würden die ganze Seele nicht ausfül- len, und nur wie einzelne und zerstreuete Punkte auf ei- ner Fläche vorhanden seyn. Die Einbildungskraft ist es, die jene Empfindnisse in einander zusammen ziehet, zu Einem Ganzen vereiniget, die Eindrücke von vielen in Einem Haufen zusammenbringet, solche mit jeder ein- zelnen Empfindung verbindet, und sie mit ihrer vereinig- ten Macht auf jede einzelne Seite des Gemüths wirksam macht. Es sind nicht die Schmerzen aus den Empfin- dungen; es ist nicht die Wollust aus den Empfindungen, die allein menschlich unglücklich oder glücklich machen; es sind die Empfindnisse aus Vorstellungen, die ange- nehmen und unangenehmen Gefühle, welche in der Form der Vorstellungen in uns vorhanden sind, indem sie sich auf vorhergegangene Gefühle eben so beziehen, wie alles das, was Vorstellung ist, auf andere vorhergegangene Seelen-
II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl, als die gegenwaͤrtige Dinge, die wir empfinden. DieEmpfindniſſe aus Vorſtellungen machen ohne Zweifel den groͤßten Theil von unſerm Wohl und Weh aus. Nicht die Krankheiten, wie Hr. v. Buͤffon etwas un- beſtimmt, aber richtig und erhaben ſaget, nicht die Schmerzen, nicht der Tod ſind es, die den Menſchen un- gluͤcklich machen, es ſind es ſeine Einbildungen, ſeine Furcht, ſeine Begierden. Der große Mann nannte nur einige, aber die vornehmſten Theile von unſerm gan- zen Empfindungsuͤbel, die nemlich, welche aus den aͤu- ßern Empfindungen entſpringen. Es iſt noch der zwote geiſtige Theil zuruͤck, der in den innern Empfindungen unſer ſelbſt lieget. Aber wenn man auch beide zuſam- men nimmt, ſo iſt es doch eine Wahrheit, wenn die Phan- taſie dem Menſchen benommen wuͤrde, oder wenn ihr Beytrag abgehalten werden koͤnnte, ſo wuͤrden die Em- pfindungen allein immer zwar noch die Gruͤnde ſeyn, aus welchen Luſt und Unluſt hervorquillet und von ihnen als von ſo viel Mittelpunkten aus uͤber die Seele ſich verbrei- tet, aber ſie allein wuͤrden die ganze Seele nicht ausfuͤl- len, und nur wie einzelne und zerſtreuete Punkte auf ei- ner Flaͤche vorhanden ſeyn. Die Einbildungskraft iſt es, die jene Empfindniſſe in einander zuſammen ziehet, zu Einem Ganzen vereiniget, die Eindruͤcke von vielen in Einem Haufen zuſammenbringet, ſolche mit jeder ein- zelnen Empfindung verbindet, und ſie mit ihrer vereinig- ten Macht auf jede einzelne Seite des Gemuͤths wirkſam macht. Es ſind nicht die Schmerzen aus den Empfin- dungen; es iſt nicht die Wolluſt aus den Empfindungen, die allein menſchlich ungluͤcklich oder gluͤcklich machen; es ſind die Empfindniſſe aus Vorſtellungen, die ange- nehmen und unangenehmen Gefuͤhle, welche in der Form der Vorſtellungen in uns vorhanden ſind, indem ſie ſich auf vorhergegangene Gefuͤhle eben ſo beziehen, wie alles das, was Vorſtellung iſt, auf andere vorhergegangene Seelen-
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II. Verſuch. Ueber das Gefuͤhl,
als die gegenwaͤrtige Dinge, die wir empfinden. Die
Empfindniſſe aus Vorſtellungen machen ohne Zweifel
den groͤßten Theil von unſerm Wohl und Weh aus.
Nicht die Krankheiten, wie Hr. v. Buͤffon etwas un-
beſtimmt, aber richtig und erhaben ſaget, nicht die
Schmerzen, nicht der Tod ſind es, die den Menſchen un-
gluͤcklich machen, es ſind es ſeine Einbildungen, ſeine
Furcht, ſeine Begierden. Der große Mann nannte
nur einige, aber die vornehmſten Theile von unſerm gan-
zen Empfindungsuͤbel, die nemlich, welche aus den aͤu-
ßern Empfindungen entſpringen. Es iſt noch der zwote
geiſtige Theil zuruͤck, der in den innern Empfindungen
unſer ſelbſt lieget. Aber wenn man auch beide zuſam-
men nimmt, ſo iſt es doch eine Wahrheit, wenn die Phan-
taſie dem Menſchen benommen wuͤrde, oder wenn ihr
Beytrag abgehalten werden koͤnnte, ſo wuͤrden die Em-
pfindungen allein immer zwar noch die Gruͤnde ſeyn, aus
welchen Luſt und Unluſt hervorquillet und von ihnen als
von ſo viel Mittelpunkten aus uͤber die Seele ſich verbrei-
tet, aber ſie allein wuͤrden die ganze Seele nicht ausfuͤl-
len, und nur wie einzelne und zerſtreuete Punkte auf ei-
ner Flaͤche vorhanden ſeyn. Die Einbildungskraft iſt
es, die jene Empfindniſſe in einander zuſammen ziehet,
zu Einem Ganzen vereiniget, die Eindruͤcke von vielen
in Einem Haufen zuſammenbringet, ſolche mit jeder ein-
zelnen Empfindung verbindet, und ſie mit ihrer vereinig-
ten Macht auf jede einzelne Seite des Gemuͤths wirkſam
macht. Es ſind nicht die Schmerzen aus den Empfin-
dungen; es iſt nicht die Wolluſt aus den Empfindungen,
die allein menſchlich ungluͤcklich oder gluͤcklich machen;
es ſind die Empfindniſſe aus Vorſtellungen, die ange-
nehmen und unangenehmen Gefuͤhle, welche in der Form
der Vorſtellungen in uns vorhanden ſind, indem ſie ſich
auf vorhergegangene Gefuͤhle eben ſo beziehen, wie alles
das, was Vorſtellung iſt, auf andere vorhergegangene
Seelen-
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